nd-aktuell.de / 28.08.2014 / Kommentare / Seite 4

Italien fühlt sich zu Recht alleingelassen

Anna Maldini zur Überforderung des EU-Landes mit dem Zustrom von Flüchtlingen

Anna Maldini
Mitte des Monats wurde die 100 000er Marke an Migranten und Flüchtlingen überschritten, die in diesem Jahr den Weg über das Mittelmeer nach Italien gefunden haben. Und das Land ist komplett überfordert, doch Brüssel ignoriert das lieber.

Mitte des Monats wurde die 100 000er Marke an Migranten und Flüchtlingen überschritten, die in diesem Jahr den Weg über das Mittelmeer nach Italien gefunden haben. Möglicherweise sitzt irgendwo im italienischen Innenministerium ein einfacher Angestellter und tippt acht Stunden am Tag in einen Computer Zahlen, die aus Sizilien, Kalabrien, Apulien und manchmal auch aus Sardinien eintrudeln. Er wird wahrscheinlich fast wahnsinnig, weil er mit der Marine, dem Küstenschutz, den Regionen, aber auch mit einzelnen kleinen Gemeinden zusammenarbeiten muss, um irgendwie den Überblick zu behalten.

Am Nebenschreibtisch sitzt – zumindest in meiner Fantasie – eine traurige Kollegin, die einen noch schwierigeren Job hat: Sie soll herausfinden, wie viele Menschen bei ihrem Versuch, vor Hunger, Elend und Verfolgung zu fliehen, irgendwo zwischen Nordafrika und Europa im Mittelmeer ertrunken sind. Sie bezieht ihre Daten von Fischern, die Leichen aus dem Wasser gezogen haben, von Flüchtlingen, die nach der Überfahrt ihre Freunde oder Verwandten vermissen, von Urlaubern, die bei einem Segelausflug vor der Küste Siziliens ein kopfüber schwimmendes Wrack entdeckt haben oder auch von weinenden Matrosen, die von 15 Flüchtlingen nur 10 retten konnten, während die anderen vor ihren Augen ertranken.

Obwohl sie ganz akribisch arbeitet, sind ihre Zahlen nicht verlässlich. Laut Flüchtlingshochkommissariat der UN (UNHCR) waren es in diesem Jahr bereits mindestens 1900 Tote. Klar ist aber, dass seit Anfang 2014 »weniger« Menschen umgekommen sind, wobei das eben ein relativer Begriff ist. Seit diesem Jahr funktioniert die Operation »Mare Nostrum«, die von der italienischen Regierung ins Leben gerufen wurde, um die Flüchtlingsboote möglichst nah an der afrikanischen Küste abzufangen und sicher an Land zu bringen. Das ist löblich. Möglicherweise hat diese Initiative tatsächlich den Friedensnobelpreis verdient, wie Kommentatoren vorschlagen, weil jeder Mensch, der Europa lebend erreicht, eine Bereicherung für unseren Kontinent und die Menschheit ist.

Diese Ansicht wird offensichtlich nur von wenigen Europäern geteilt und abgesehen von den solidaritätstriefenden Sonntagsreden erst recht nicht von den politisch Verantwortlichen. Sonst würden sie Flüchtlinge und Migranten anders behandeln. Und in Europa scheint man an der Rettung der Flüchtlinge auch nicht besonders interessiert zu sein. Die EU gibt Italien zwar Geld, will die Operation aber nicht übernehmen. Erst aufgrund der Drohung, »Mare Nostrum« einzustellen, kam es nun am Mittwoch zu einem ernsthaften Gespräch zwischen EU-Kommission und italienischer Regierung.

Dass Italien mit dem Ansturm nicht nur finanziell überfordert ist, ist inzwischen wohl allen klar. Man braucht nur zuzusehen, wenn an irgendeinem Hafen im Süden des Landes Hunderte und manchmal Tausende Menschen aus einem Boot der Marine steigen. Dann nämlich bricht das Chaos aus. Wer soll wohin? Wer braucht medizinische Hilfe und wo sind die Minderjährigen ohne Begleitung, die gesondert untergebracht werden müssen? Wer kann sofort Asyl beantragen und nach Norden weiterreisen und über wessen Schicksal müsste erst einmal eine Kommission in Italien entscheiden?

Die vielen Freiwilligen vor Ort versuchen zu helfen, wo es geht. Aber die Strukturen funktionieren einfach nicht, was vielleicht bei diesem Massenansturm auch nicht verwunderlich nicht. Gegen die Bevölkerung und auch gegen die lokalen Behörden kann man nichts sagen. Sie tun alles, um das zu bewältigen, was für die Verantwortlichen in Brüssel und Rom ein momentaner Notstand ist, für sie aber Alltag – und das seit vielen Monaten.

Anders die Haltung von Innenminister Angelino Alfano. Auf der einen Seite brüstet er sich, wo er nur kann, mit der humanitären Großzügigkeit Italiens. Auf der anderen aber fordert er »Null Toleranz« gegenüber den »Illegalen« und nennt sie verächtlich »Vu cumpra«, was eine abschätzige Bezeichnung für die fliegenden Händler ist, die an Italiens Stränden Sonnenbrillen, Sandalen und Schmuck verkaufen. Alfano kennt wahrscheinlich keinen einzigen Flüchtling, aber auch nicht die beiden Angestellten in seinem Ministerium, die auch heute wieder ihre Zahlen in den PC tippen: Der eine zählt die Geretteten, mit denen man prahlen kann, die andere die Toten, die man in Rom und in Brüssel doch lieber ignoriert.