nd-aktuell.de / 28.08.2014 / Politik / Seite 20

»Halte den Mund, sonst bist Du dran«

Von 1997 bis 2013 sollen im britischen Rotherham 1400 Kinder missbraucht worden sein

Michael Donhauser, London
Ein Untersuchungsbericht hat in Großbritannien ein unbeschreibliches Ausmaß von sexueller Ausbeutung bei Kindern offenbart. Es ist ein neuer spektakulärer Fall von sexueller Gewalt gegen Kinder.

Rotherham ist eine Stadt, die stellvertretend für den Niedergang der nordenglischen Industriekultur stehen könnte. Rote Bergarbeiterhäuschen und Schlote auf Fabrikbrachen zeugen davon, dass wirtschaftliche Blüte hier eher Geschichte ist. Einst als Stadt von Kohle und Stahl berühmt, ist Rotherham jetzt in den Schlagzeilen als Synonym für einen fast unglaublichen Skandal um den Missbrauch und die sexuelle Ausbeutung junger Mädchen. Zwischen 1997 und 2013 sollen 1400 Kinder und Jugendliche Opfer von Vergewaltigern und Schleusern geworden sein, fand ein unabhängiger Bericht der Professorin Alexis Jay heraus. Polizei und Jugendamt schauten weitgehend zu.

Kindesmissbrauch bei der BBC, Leichenschändung in staatlichen Krankenhäusern, systematischer Missbrauch in Kinderheimen in Wales, Hunderte geschändete Heimkinder in Nordirland, der Vatikan ermittelt in Schottland gegen einen Kardinal: Verbirgt sich hinter der Fassade von Höflichkeit und guten Manieren eine Nation von Kinderschändern? »Rotherham ist keinesfalls ein Einzelfall«, sagt der Chef der Selbsthilfeorganisation National Association for People Abused in Childhood, Peter Saunders.

Im Zwölfmonatszeitraum 2011/ 2012 wurden in Großbritannien laut einem Bericht der Schutzorganisation NSPCC 29 305 Kinder Opfer von Missbrauch. In bevölkerungsreicheren Deutschland lag die Zahl laut BKA mit 14 877 bei der Hälfte.

Alarmierend sind die Zahlen dennoch. Nimmt man alle Fälle von Kindern zusammen, die Opfer von häuslicher oder sonstiger Gewalt geworden sind, kommt man in Großbritannien den Zahlen der Hilfsorganisation zufolge auf rund eine Million. Und der Bericht gibt zu: »Die meisten Kinder, die Opfer von Gewalt oder Vernachlässigung werden, sind den Behörden gar nicht bekannt.«

Selbst wenn: In Rotherham und nicht nur dort war das Problem seit Jahren bekannt. Eine Bande von Männern mit Wurzeln in Pakistan hat junge Mädchen, meist aus extrem sozialschwachen Verhältnissen, als billige Prostituierte missbraucht. Elfjährige Kinder wurden mit Schnaps und Geschenken gefügig gemacht, Betrunkene Erwachsene fielen dann über sie her. Wenn die Köder nicht reichten, gebrauchten die Täter Gewalt.

Der Bericht von Alexis Jay listet einen Fall auf, in dem ein Mädchen mit Benzin überschüttet wurde und bei einer Vergewaltigung zusehen musste, um zum Schweigen gebracht zu werden. »Halte den Mund, sonst bist Du dran«, hieß es. In Gerichtsverfahren in Städten wie Derby oder Oxford wurden ähnliche Fälle bekannt. In Rotherham griff das Jugendamt nicht entscheidend ein. Sozialarbeiter behaupteten, sie hätten Angst gehabt, als rassistisch zu gelten, wenn sie die gegen die nach außen unbescholtenen Familienväter vorgegangen wären.

Jahrzehntelang verschwiegen wurden auch andere Fälle. Starmoderator Jimmy Savile konnte sein Unwesen in der BBC treiben, ohne von Kollegen verraten zu werden. Berichte über Gewalttaten sogenannter Erzieher in walisischen Kinderheimen blieben jahrelang liegen - wohl aus Angst vor Schadensersatzansprüchen der Betroffenen, wie der entlarvende »Jillings-Report« 2013 aufdeckte. In Nordirland warteten Opfer Jahrzehnte, überhaupt gehört zu werden.

Rotherham passt in dieses Schema des »Es kann nicht sein, was nicht sein darf«. Opfer berichteten, sie seien von der Polizei bei ihrer Zeugenvernehmung nicht ernst genommen worden, weil sie ohnehin als Problemkinder aus der untersten Schicht des englischen Klassensystems galten.