Es war nicht alles gut

Die Schriftsteller David Wagner (West) und Jochen Schmidt (Ost) erinnern sich an »Zwei deutsche Kindheiten«

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 8 Min.

Man kann dieses Buch drehen und wenden, wie man will, und das soll man auch, denn bei »Drüben und drüben« handelt es sich um ein Wende-Buch - im übertragenen Sinne wie im wörtlichen. Man kann mit dem Lesen hinten wie vorne beginnen, weil es ein Hinten und ein Vorne nicht gibt. Nur eine Mitte, die von einer schwarz-weißen Doppelseite markiert wird. Das Foto darauf zeigt einen Betonwall mit Stahlskelett, durch den sich ein Riss zieht, der den Blick freigibt auf Leere. Weißes Papier. Spätestens hier muss man das Buch umdrehen, wenn man auch die andere Hälfte kennenlernen will. Tut man es nicht, steht die Schrift der Folgeseiten auf dem Kopf und bleibt unverstanden.

»Zwei deutsche Kindheiten«, so der Untertitel des Doppelbuchs, werden dies- und jenseits des Angelpunkts erzählt - und wie sie erzählt werden, das ist die Sensation. Die beiden, die hier das Kunststück vollbringen, aus ihren Erinnerungsfragmenten - unzähligen Gedächtnisbruchstücken, die manchmal nicht größer sind als ein Körnchen abgebröckelten Putzes - blühende Landschaften gelebten Lebens in Bewegung zu versetzen, sind die Schriftsteller Jochen Schmidt und David Wagner. Der eine im Osten, der andere im Westen geboren, fiel für beide das Jahr 1989 mit dem Erreichen des sogenannten Erwachsenenalters zusammen. Schmidt und Wagner sind ausgewiesene Erinnerungsliteraten. Ihre Bücher, scheinbar mit leichter Hand geschrieben, kann man als Anarbeiten gegen ideologische Vergangenheitsschablonen lesen.

Wenn Wagner in seinem Debütroman »Meine nachtblaue Hose« (2000) von einer Kindheit im Rheinland der Vorwendezeit erzählt hat, wenn Schmidt die jugendlichen Figuren seines jüngsten Romans »Schneckenmühle« (2013) ein sächsisches Ferienlager im Sommer 1989 durchleben ließ, dann führten diese Erzählungen, gerade weil sie sich so ungeheuer dicht an den kleinsten Beschwernissen des Alltags entlangbewegten, jene Zeit sehr viel wahrhaftiger vor Augen, als ein Geschichtsbuch es je vermochte. Neben der Fertigkeit, Worte wie Kieselsteine über die Buchseiten springen zu lassen, statt jede Seite mit der Schwere eines Findlings zu belasten, scheinen beide Autoren mit einem so präzisen Gedächtnis gesegnet - oder geschlagen - zu sein, wie es den Wenigsten gegeben ist. Für ein Buch wie »Drüben und drüben« macht sich das doppelt bezahlt.

Das Buch ist so gut und besonders, weil es dem vereinnahmenden »Wir« in Büchern wie Jana Hensels »Zonenkinder« (Ost) oder Florian Illies’ »Generation Golf« (West) ganz unbefangen ein »Ich« entgegensetzt, das gar nicht erst so tut, als hätte es etwas zur schulbuchgeeigneten Objektivierung des erlebten Vergangenen beizutragen. Der Umschlag aber führt in die Irre, weil er das Gegenteil dessen verspricht, was der Inhalt erfüllt. Es sind auf dem Doppelcover jeweils zwei Bilder einer Wand zu sehen: Das eine Mal ist sie trist und grau und zu ihren Füßen welkt braunes, vertrocknetes Gras. Das andere Mal ist sie lustig und bunt bemalt.

Es ist dies aber eben kein Buch über den Zustand der Berliner Mauer vor 1989, die auf jener Seite, wo sie offiziell Antifaschistischer Schutzwall genannt wurde, damals tatsächlich karg und unbeschriftet, auf der gegenüberliegenden hingegen freiheitlich wüst beschmiert war. Es ist ein Buch über zwei konkrete Lebensanfänge zweier konkreter Menschen, ausgemachter Individualisten zumal. Natürlich, der Reiz der Konstellation ergibt sich aus der politischen, ökonomischen, räumlichen Trennung der Biografien durch die deutsch-deutsche Grenze. Das Erstaunliche an »Drüben und drüben« aber ist, in wie vielen Details sich die beiden Kindheiten, so wie sie hier erinnert und erzählt werden, nicht nur unterscheiden, sondern auch ähneln. Der Umschlag suggeriert, Schmidts DDR-Kindheit sei trist und grau, diejenige Wagners bunt und wild verlaufen. Das ist falsch.

»Ich habe diese Kindheit immer dabei«, schreibt David Wagner, »aus ihr komme ich nicht heraus. Alles, was war, schleppe ich mit mir herum, die Erinnerungen an Neubauten, an den Wunsch, im Zelt zu übernachten, an Trafokästen, Kaugummiautomaten und Zäune, an ausziehbare, blassgrau gemusterte Küchentische, Verbundsteinpflaster, Waschbetonplatten und eine blau-rote Kinderbadehose, auf der ich ein Freischwimmerabzeichen trug, meine Mutter hatte es mir aufgenäht.« Den Kaugummiautomaten einmal abgezogen, hätte derselbe Satz auch in Jochen Schmidts Buchhälfte stehen können.

Die Gier nach Süßigkeiten und die Entwicklung trickreicher Strategien, um sich welche zu ergaunern. Die Sucht nach dem damals hüben wie drüben überschaubaren, vom Testbild unterbrochenen Fernsehprogramm. Die Rituale beim Fußballspielen mit Freunden, die Freude am Knallen von Zündplättchen und am Necken der Mädchen mit Hagebutten entnommenem Juckpulver. Die Lust an der Zerstörung und die Angst vor dem Atomkrieg (nebst dem festen Vorhaben, ihn eigenhändig zu verhindern). Die Langeweile im Schulunterricht und der Frust über das von den Eltern eingeforderte Herunterbringen des Mülls. Auf solche Dinge richtet sich das akribische Augenmerk beider Schriftsteller - weil es die Dinge sind, die Kinder, ob im Neubaugebiet Berlin-Buch III oder in der Einfamilienhaussiedlung in Andernach, nun einmal wirklich beschäftigten.

Schmidts und Wagners Erzählung wird darüber aber nie allzu banal. Das liegt auch an der fast schon autistischen Sensibilität beider Autoren. Deren Wahrnehmung richtet sich oft noch auf scheinbar abseitige, skurrile, kleinstteilige Beobachtungen und Empfindungen, die sich dann aber doch auch in der Erinnerung der Lesenden - je nachdem, wann und wo sie aufgewachsen sind - als wesentlich zurückmelden. Scheinbar beiläufig mischt sich zudem immer wieder die große Weltpolitik, mischt sich der Kalte Krieg in die Erzählungen, aber immer gebrochen durch den naiven Blick des Kindes, den nur ab und zu ein wissendes Augenzwinkern des inzwischen Mittvierzigjährigen durchzuckt.

»Ich hatte ein Hemd, auf dessen Brusttasche ›U.S. Army‹ gestickt war«, scheibt Schmidt. »Wir trennten das ›y‹ auf, ›U.S. Arm‹ ging durch. Seltsamerweise gab es in den USA die größte Ausbeutung, aber am wenigsten Arbeiterproteste. Der amerikanische KP-Chef hieß Gus Hall, ob seine Landsleute den überhaupt kannten? In Essen saß Herbert Mies von der DKP. Die hatten viel Arbeit vor sich.« Und bei David Wagner endet das Kapitel über die Küche seines gehobenen Mittelklasse-Elternhauses, dessen Putzfrau einen Mercedes fuhr, so: »Hatten wir diesen Wohlstand überhaupt verdient? Wir hatten doch fast alle Juden umgebracht - wieso ging es uns dann so gut? ... War unser westdeutscher Wohlstand eventuell auf Leichenbergen erbaut?«

Dass die DDR für das Kind im Rheinland nicht existierte, daran lässt Wagner keinen Zweifel. Die Grenze, die es bei Klassenfahrten um keinen Preis zu überschreiten galt, war jene zum anderen Ufer des Rheins. »Ich glaube«, heißt es einmal, »die DDR entstand erst, als sie vorbei war. So richtig gibt es die DDR erst, seit es sie nicht mehr gibt. Solange sie existierte, hat sich kaum jemand für sie interessiert.« Umgekehrt ist das andere Deutschland für Jochen Schmidt, der in einem christlich geprägten Akademikerelternhaus aufwächst, gleichzeitig unerreichbar und omnipräsent. Zu Weihnachten treffen die Pakete der Westverwandten ein, gefüllt mit heiß begehrten Waren: »Alles von drüben war immer so praktisch! (›Nicht die Produkte sind schlecht‹, hatte unser Staatsbürgerkundelehrer gesagt, ›sondern der Kapitalismus.‹)«. Im Fernsehen laufen die Programme von drüben, auch wenn es zunächst nur drei sind. Aber trotz aller Sehnsucht nach dem Westen ist da das erlernte Gefühl, im »richtigen Deutschland« zu leben: »Bei uns war die Kultur; Museumsinsel, Weimar, der Zwinger, Ritter Kahlbutz und der Kreidefelsen. Drüben waren die Nazis untergekommen, und es gab Arbeitslose. ... Die BRD, das waren von den Amerikanern hochgepäppelte deutsche Randgebiete, mit einer Ersatzhauptstadt, die sie möglichst weit entfernt von irgendwelchen aufrührerischen Arbeiterzentren errichtet hatten - wie die Brasilianer Brasília, das gleich ganz in den Dschungel gesetzt worden war.«

Bonn, in dessen Nähe der gleichaltrige David Wagner aufwuchs, lag für Schmidt im »Dschungel«, Schmidts Heimat, die DDR, für Wagner im »Jenseits«. Dem Tag, an dem Dschungel und Jenseits plötzlich dicht aneinanderrückten, ist der jeweils letzte Abschnitt beider Erzählungen gewidmet. Den Kapiteln »Kinderzimmer«, »Wohnzimmer«, »Küche«, »Badezimmer«, »Garten«, »Wege«, »Schule«, »Spielplätze«, »Bei anderen«, »Im Auto«, »Ferien« und »Niemandsland« folgt abschließend das mit der Überschrift »9. November 1989«. So ähnlich sich beide Kindheiten bis dahin in vielen Punkten waren, so verschieden - hier wird es deutlich - wären beide Biografien wohl weiterverlaufen, ohne den Mauerfall.

Der Abiturient David Wagner verbringt den Abend jenes 9. November in der Disko, es ist wie jeden Donnerstag »Independent-Tag«, am nächsten Vormittag steht eine Lateinklausur an. Jochen Schmidt, der just an diesem Tag 19 Jahre alt wird, leistet gleichzeitig seinen Dienst in einer NVA-Kaserne, übermüdet von der Stechschritt-Übung, vom Brandschutz- und frühmorgendlichen Küchendienst. »Die Erinnerung an diesen 9. und 10. November ist eine an ein großes, außergewöhnliches Fernsehereignis, das mir zum ersten Mal das Gefühl vermittelte, im Hier und Jetzt passiere etwas«, schreibt Wagner. »Irgendwann zwischen dem Schrubben der Küchenfliesen und dem Rausfahren der vielen Essensreste ... sagte jemand: ›Die Mauer ist auf‹«, steht an der Parallelstelle bei Schmidt. Und: »Ein paar Stunden Schlaf wären mir lieber gewesen.«

Jochen Schmidt, David Wagner: Drüben und drüben. Zwei deutsche Kindheiten. Rowohlt, 336 S., geb., 19,95 €. Buchpremiere am 10. September, 20 Uhr, im Literarischen Colloquium Berlin Auch erhältlich im nd-Shop, Tel.: (030) 2978-1777

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