Angst gegen Hoffnung

Unabhängigkeitsgegner und -befürworter in Schottland werben bis zuletzt um Stimmen

  • Pit Wuhrer, Glasgow/Edinburgh
  • Lesedauer: 6 Min.
Rund um das Referendum wurden unter den Schotten Themen diskutiert, die noch nie so intensiv öffentlich behandelt wurden.

»Wenn alles gut läuft, bekommen die in London bald ein gewaltiges Problem«, sagt Jamie Watson und zeigt aus dem großen Versammlungszelt Richtung Norden. Dort, ein paar hundert Meter entfernt, liegt hinter hohen Zäunen Her Majesty’s Naval Base Faslane, Britanniens einziger Atom-U-Boot-Hafen. Er jedenfalls werde an diesem Donnerstag abstimmen, sagt der 32-jährige ehemalige Krankenpfleger: »Ich gehe sonst nie wählen, aber dieses Referendum ist einfach zu wichtig. Es könnte vieles in Gang setzen, womöglich sogar das Ende der britischen Atomstreitmacht einleiten und …« - aber da fällt ihm Colette McCapperty ins Wort: »Du hast vielleicht Illusionen«, sagt die Mutter von zwei Kindern. »Die Unabhängigkeit ist doch keine Lösung. Wirklich unabhängig wird nur, wer sich auch unabhängig vom Staat macht.« Doch sie kann Watson nicht überzeugen: »Wenn die Yes-Seite gewinnt«, antwortet er, »wird zwar nicht alles radikal und gut, aber dann sind wir die da drüben in fünfeinhalb Jahren los.«

Jamie Watson, Colette McCapperty und zehn weitere Friedensaktivisten leben zum Teil seit Jahren im Faslane Peace Camp, dem letzten großen Friedenscamp der britischen Antikriegsbewegung. Ein Dutzend Caravans, drei bunt bemalte, ausrangierte Busse und ein großes Versammlungszelt stehen am Rand der A 814. Das 1982 errichtete Camp ist Symbol des Widerstands gegen Britanniens atomare Rüstungspolitik, Ausgangspunkt für zahllose Aktionen und Versammlungsort der KriegsgegnerInnen. »Im März haben es zwei von uns geschafft, auf ein U-Boot zu klettern«, erzählt McCapperty, »und im Juli konnten wir frühmorgens mehrere Stunden lang einen Straßentransport mit Atomraketen blockieren.«

Faslane liegt am Gore Loch, 25 Meilen westlich von Glasgow. Von hier aus durchziehen die vier britischen, mit insgesamt 58 Trident-Atomraketen bestückten U-Boote die Weltmeere, und hierher kehren sie wieder zurück - es gibt keinen anderen Stützpunkt für die britische Atomstreitkraft. Und der ist akut gefährdet: Sollten die Unabhängigkeitsbefürworter das Referendum gewinnen, werden die Docks von Faslane für Atom-U-Boote gesperrt.

So engagiert wie Watson und McCapperty debattiert auch Jennifer »Lily« Zotou mit allen, die in die Nähe ihres Informationsstands vor der Glasgower Bahnstation Partick kommen. Dass die beiden Lager - das der Unabhängigkeitsgegner und jenes der -befürworter - kurz vor der Abstimmung laut Umfragen Kopf an Kopf liegen, hat vor allem mit Leuten wie Zotou zu tun. Seit Wochen schon wirbelt die Frau mit den schottisch-blau gefärbten Haaren durch das Arbeiterquartier hier im Westen der größten schottischen Stadt. Sie klingelt an Haustüren, organisiert Versammlungen, verteilt Flyer und spricht Unentschlossene an. Tag für Tag.

Woher ihre Begeisterung? »Zum ersten Mal überhaupt werden wir kleinen Leute gefragt. Endlich gibt es hier so etwas wie Demokratie«, sagt sie. Und vorher gab es keine? In Schottland, antwortet Lily Zotou, »votiert die große Mehrheit der Bevölkerung seit Jahrzehnten links, also für Labour oder die Scottish National Party (SNP). Und wer regiert uns? Ein paar Tory-Millionäre aus dem englischen Süden, die den Staat abschaffen wollen, die Reichen begünstigen, den Banken hörig sind und die Armen verelenden lassen«. Ähnlich argumentieren ihre sechs Mitstreiter, die den Infotisch betreiben, auf denen sich Broschüren, Einkaufstaschen, Buttons und T-Shirts mit der Aufschrift »Another Scotland is possible« türmen. »Bei der letzten Unterhauswahl 2010 haben wir Schotten 59 Abgeordnete ins Westminster-Parlament geschickt«, sagt eine Rentnerin - »aber nur einen Tory«. Auch sie gehört der Radical Independence Campaign (RIC) an, einer locker organisierten Basisinitiative, in der sich Sozialisten, Umweltschützer, linke Gewerkschafter und Leute zusammengeschlossen haben, die bisher nie politisch aktiv waren.

Sie seien nicht mit allen Beschlüssen der SNP, die das Referendum maßgeblich organisiert hat, einverstanden, antwortet Zotou. »Aber sie verteidigt, so weit sie kann, unsere sozialen Errungenschaften.« Und nationalistisch könne man die SNP nicht nennen: »Sie steht in vielen Belangen links von Labour.« Als Regierungspartei kann die SNP - sie stellte nach der schottischen Regionalwahl 2007 zuerst eine Minderheitsregierung und regiert seit 2011 dank ihrer Mandatsmehrheit allein - in der Tat einiges vorweisen.

So lehnt die Regionalregierung die Privatisierung des Nationalen Gesundheitswesens (NHS) ab, die derzeit in London vorangetrieben wird. Die in anderen Teilen des Vereinigten Königreichs eingeführten und drastisch erhöhten Studiengebühren gibt es in Schottland nicht. Und die rabiaten Sozialkürzungen der britischen Regierung versucht First Minister Alex Salmond, mit Unterstützung der schottischen Labour-Partei durch Zuschüsse aus der Staatskasse abzufedern. »Stell dir mal vor, was in einem unabhängigen und egalitäreren Schottland alles möglich wäre«, schwärmt Lily Zotou. »Wir könnten den Ausbau erneuerbarer Energien forcieren, den Ölreichtum für eine Reindustrialisierung nutzen, die Ausbildung der Jugendlichen verbessern und den Sozialstaat ausbauen.«

Dass die Stimmung in Richtung der Unabhängigkeitsbefürworter kippte, hat nicht allein mit Basisinitiativen wie RIC zu tun. Grund dafür war ebenso die Angstkampagne des »Nein«-Lagers: Die Renten sinken, das schottische Sozialstaatsmodell ist unfinanzierbar, Arbeitsplätze verschwinden, Schottland läuft schnurstracks in den Kollaps. Auch die Unabhängigkeitsbefürworter drohen mit Nachteilen, argumentieren aber vorwiegend mit dem progressiven Potenzial eines Schottlands von unten. Angst gegen Hoffnung, Status quo gegen Visionen.

So kommen aber auch - weitgehend frei von nationalistischen Untertönen - Themen auf den Tisch, die bisher noch nie so intensiv öffentlich diskutiert wurden: das Rüstungsprogramm Trident, die Landfrage und die Macht der grundbesitzenden Aristokratie, die Monarchie sowie die EU-Zugehörigkeit oder die zunehmend migrationsfeindliche Politik der Westminster-Parteien - Schottland, das sagt auch die SNP, brauche mehr Einwanderung, nicht weniger.

Wie auch immer das Referendum ausgehen wird, die konservativ-liberale Regierung in London hat unter den Debatten der letzten Monate erheblich gelitten. Doch auch für Labour werde es bei dieser Abstimmung heikel, sagt Allan Armstrong in Edinburgh - »egal, wie das Referendum ausgeht. Mindestens ein Drittel der traditionellen Labour-Wähler stimmt mit Ja.« Dabei sei Labour seit der Regentschaft von Margaret Thatcher die Partei der Schotten gewesen, erklärt Armstrong, ehemaliger Lehrer und aktiver Gewerkschafter, der jetzt für das dezentrale linke RIC-Bündnis Klinken putzt. Thatcher habe mit ihrer am Finanzmarkt orientierten Politik Schottlands industrielle Basis zerstört, Werften geschlossen und Krieg gegen die Bergarbeiter geführt. Ihre Kopfsteuer - eine kommunale Abgabe, die für Millionäre wie Arbeitslose gleichermaßen erhoben wurde, - führte in Schottland zu massenhaften Boykotts, die zu Thatchers Sturz beitrugen. »Aber Tony Blairs New Labour hat daraus nichts gelernt, sondern wie die Tories mit unseren Ressourcen den Aufbau des Londoner Finanzzentrums finanziert.« Seither wird die SNP immer stärker, mit einem Ja beim Referendum wohl noch viel mehr.

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