Gegenwart im »Winterlicht«

Dimitri Verhulst

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Sokrates war vor seiner Frau auf den Markt von Athen geflohen und wurde dort als Begründer der abendländischen Philosophie wirksam. Wir verdanken seiner Xanthippe also viel. Désiré Cordier, ein dreiundsiebzigjähriger flämischer Bibliothekar, floh vor seiner Frau Monique in ein Pflegeheim für Demenzkranke, obwohl er - vielleicht bis auf diese Entscheidung - im Kopf völlig normal funktionierte. Der 1972 geborene flämische Autor Dimitri Verhulst hat diese Figur erfunden. Der Simulant ist zu intelligent, um seine Angehörigen abrupt mit seiner geistigen Hinfälligkeit zu überraschen, er bereitet sie zwar nicht schonend, aber auf höchst amüsante Weise auf den angestrebten Ernstfall vor. Im Heim muss Désiré durchhalten, darf sich keine Blöße geben, muss auch dem fortschreitenden Verfall seiner Sinneskräfte Rechnung tragen und nimmt sich - belesen wie er als Bibliothekar ist - den tschechischen Autor Bohumil Hrabal als Vorbild, der sich beim Füttern der Vögel aus dem Fenster stürzte. Der Schierlingsbecher wird im freien Fall geleert.

Verhulst attackiert die Lachmuskeln seiner Leser. Schon die Vorbereitungshandlungen Désirés haben es in sich, wenn er mit seiner Familie viele hundert Kilometer mit dem Wohnanhänger nach Frankreich in die Ferien fährt und erst am Ankunftsort feststellt, dass nichts zum Wohnen am Haken hängt. Seine simulierten Einkaufstouren, Schwarzfahrten nach Lüttich und weiter im ICE, gewollte Missverständnisse bringen seine Frau zur Weißglut und seine Kinder zur Verzweiflung.

Schließlich wird er eingewiesen, und es entwickelt sich das ganze - tieftraurige - Panorama einer Welt ohne Gedächtnis und ohne Perspektive, die humane Aufbewahrung altersdementer Menschen. Verhulst erzählt alles in einem abwechslungsreichen Spiel von Gegenwart im »Winterlicht«, so der düstere Name des Heims, und Rückblenden in die Zeit an der Seite von Monique. Er spielt mit den Empfindungen seiner Leser, die er in Empathie versetzt, um ihnen - subito! - das Zwerchfell zu massieren. Er tut das auf literarisch anspruchsvolle und menschlich respektable Weise. Die Kranken werden nicht vorgeführt. Ein besonderes Lob verdient der Übersetzer Rainer Kersten, der jeden Witz, der bei Verhulst vom Wort lebt, herüberbringt. Einer der Mitinsassen im »Winterlicht« ist ein ehemaliger KZ-Kommandant, der letzte Überlebende seiner Verbrecherclique. In einer bewegenden Szene betritt Désiré dessen Zimmer und verlässt seine Rolle, um den »Lagerkommandant Alzheimer« mit seiner Vergangenheit zu konfrontieren: »Der Kommandant hatte gerade seinen Rollstuhl verlassen und stand mitten im Raum, mit seinen Beinkleidern kämpfend (er hatte beide Füße durchs selbe Loch stecken wollen, ein Klassiker).« Das ist die Gleichzeitigkeit von Erinnerung an namenlose Verbrechen und Situationskomik, durch den »Klassiker« auf ein Wort zugespitzt - meisterhaft.

Dimitri Verhulst: Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau. Roman. Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten. Luchterhand. 142 S., br., 12,99 €.

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