nd-aktuell.de / 02.10.2014 / Kommentare / Seite 4

Europa braucht keine neuen Mauern

Irvin Mujcic fordert, die physische und psychische Segregation von Roma vor allem in östlichen EU-Ländern zu durchbrechen

Irvin Mujcic

25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer gibt es wieder neue steinerne Bollwerke in Europa, etwa zur Isolierung von Roma. Allein in der Slowakei gibt es dafür mehr zehn Mauern. Dass die dortigen Behörden solche Absperrungen errichten, ist mehr als eigenartig. Besonders wegen ihrer Begründung dafür. So hat die Lokalverwaltung von Michalovce 2009 eine solche physische Barriere eingerichtet, um die Anwohner angeblich vor Personen zu schützen, die die Gegend vermüllen und unter ihre Balkone urinieren. In Wahrheit zwingt die Mauer die Roma dazu, weitere Wege zurückzulegen, um in das Stadtzentrum zu kommen. Eine Abkürzung können sie nicht länger benutzen.

Die Lösung von Michalovce wurde von Nachbarverwaltungen in Kosice und Presov übernommen. Insgesamt wurden so bereits 14 Mauern errichtet. Alle bringen dafür dieselben Argumente. Es gehe ihnen um Sicherheit. Tatsächlich wollen viele Bürgermeister bei den nächsten Wahlen nur mehr Stimmen bekommen.

Am 9. November werden 25 Jahre seit dem Fall der Berliner Mauer vergangen sein und wir werden die Einheit von Ost und West feiern. Der 9. November war auch der Funke für die Erweiterung und den Wandel von Europa auf der Basis fundamentaler EU-Werte: Demokratie, Menschenrechte, soziale Inklusion.

Dabei hat sich die Lage vieler Roma verschlechtert. Vielen ging es in den sozialistischen Regimen besser. Die heutige Situation ähnelt mehr der Apartheid in Südafrika als der in einer modernen Demokratie. Dabei sind die physischen Mauern längst nicht das größte Problem. Sie sind nur ein Symbol, um die Linie der sozialen Teilung unter den EU-Bürgern zu markieren.

Dass immer mehr solcher Barrieren gebaut werden, hat die mediale Aufmerksamkeit geweckt. Im vergangenen Jahr hat der Bau einer Mauer in der Roma-Gemeinschaft Lunik IX in Kosice sogar die europäischen Institutionen verärgert. Denn immerhin trug Kosice zu der Zeit den Titel »Europäische Kulturhauptstadt«. Einer der Hauptgründe für die Auswahl war die vorgelegte Strategie, wie Minderheiten in das Programm einbezogen werden könnten und die Ankündigung besonderer Veranstaltungen zur Roma-Kultur. Die EU-Kommissarin für Bildung, Jugend und Kultur, Androulla Vassiliou, hat dazu klare Worte gefunden: »Ich bin davon überzeugt, dass die Errichtung physischer Barrieren einen Bruch mit den Werten darstellt, auf denen sich die EU gründet, vor allem den Respekt der Menschenwürde, die Achtung der Menschenrechte, einschließlich derer von Minderheiten. Die Union hat sich immer dazu verpflichtet, jede Form von Rassismus und Xenophobie zu bekämpfen«, schrieb sie in einem Brief an den Bürgermeister von Kosice. Und dieser erklärte, dass er ebenfalls überrascht gewesen sei vom Mauerbau in seiner Stadt. Sie sei ohne Genehmigung errichtet worden. Der Bezirksvorsteher und die Anwohner weigern sich jedoch bis heute, sie wieder abzureißen.

In der Nacht vom 9. zum 10. September legten dann ein paar Aktivisten Hand an. An die Trümmer schrieben sie »Stoppt Segregation« und »9. November 1989«. Sich selbst bezeichneten sie als »Enthusiasten, die von einer Welt träumen, in der Roma und Nicht-Roma zusammen in Frieden leben können«.

Dieses Ereignis trug sich zeitgleich mit Veranstaltungen zu, die ERGO im Rahmen der Kampagne »Europa ohne Mauern« in der Slowakei organisierte. Auch wenn sich ERGO mit dieser Art der »Öffnung« der Mauer in Kosice nicht gemein machen will, so denken wir doch, dass nicht sie Gegenstand der Diskussion sei sollte, sondern die Antwort der lokalen Behörden: Am Tag nach der Aktion wurde die Mauer sofort wiederaufgebaut, statt in den Dialog mit den Menschen - den Roma und Nicht-Roma - zu treten.

Dieses Verhalten bringt auf traurige Weise die Mauern auch in den Köpfen der Verantwortlichen zu Tage, die - obwohl unsichtbar - enorme Hindernisse für die Integration von Roma sind. Schlimmer noch: Der Trend, die Mauern zu verteidigen oder sie zumindest zu tolerieren, verstärkt sich. Vor 15 Jahren noch gab es heftige Reaktionen auf den Versuch, eine Mauer gegen Roma in Usti nad Labem in Tschechien zu bauen. Heute wird es als selbstverständlich angesehen. Wir fordern, all diese Mauern niederzureißen, Antiziganismus als Problem ernst zu nehmen und den Traum eines geeinten Europas zu verwirklichen.