nd-aktuell.de / 07.10.2014 / Politik / Seite 8

Die Euphorie des Mittelstands ist vorüber

Für Teile der Hongkonger Wirtschaft reiften nicht alle Blütenträume des Anschlusses / Starker Zustrom von »Festlandchinesen«

Hans-Jörg Probst
Die aktuellen Proteste in Hongkong haben sich am Modus für die Wahl 2017 entzündet. Die Konflikte der Stadt mit dem »Mutterland« haben jedoch noch eine Reihe anderer Ursachen.

Unmittelbarer Anlass der Proteste ist die anstehende Wahlrechtsreform in Hongkong. Dabei geht es letztlich um die Frage, ob der mit großen politischen Gestaltungsfreiheiten ausgestattete Regierungschef des Sonderverwaltungsgebiets in allgemeiner, freier und direkter Wahl ermittelt werden kann oder ob weiterhin Kandidaten für dieses Amt durch ein Auswahlkomitee benannt und gewählt werden. Immerhin war damit ein privilegierter Zugang zum chinesischen Markt verbunden. Teile der Hongkonger Gesellschaft, darunter der industrielle Mittelstand, betrachten die zunehmende Integration Hongkongs in die VR China aber durchaus mit gemischten Gefühlen und wünschen sich einen Regierungschef, der nachdrücklicher die Interessen der Hongkonger Mittelschicht gegenüber China vertritt.

Der anfänglichen Euphorie des Hongkonger Mittelstands über breiteren Zugang zum südchinesischen Markt folgte bald die ernüchternde Feststellung, dass sich Hongkonger Unternehmen in der angrenzenden Provinz Guangdong wachsender Kritik an ihren umweltbelastenden Industrieanlagen, rechtswidrigen Arbeitsmethoden und notorischen Korruptionsversuchen gegenüber Verwaltungskadern ausgesetzt sahen.

Zudem förderten die lokalen Behörden bald einen intensiven Verdrängungswettbewerb durch nachrückende chinesische Unternehmen an der gleichen Stelle der Wertschöpfungskette, die den finanziellen Rückfluss von Hongkonger Mittelstandsinvestitionen in Südchina erheblich beeinträchtigte. Wenn in den frühen Phasen des Aufbaus von privatwirtschaftlichen Finanzdienstleistungen in China vertriebserfahrene Manager aus Hongkong als Ausbilder oder sogar in Führungspositionen gern gesehen waren, erwies sich auch das bereits nach wenigen Jahren als problematisch, sobald chinesisches Fach- und Führungspersonal nachrücken konnte. Insofern kann die sogenannte Nordexpansion des Hongkonger Mittelstands durchaus als wirtschaftlicher Flop betrachtet werden. Dieser hinterließ in Hongkong eine breite Spur, die sich nicht zuletzt in Misstrauen gegenüber China nahestehenden Politikern Hongkongs manifestiert.

Andere Belastungen im Verhältnis zwischen Hongkong und China entstanden im Ergebnis der starken Zuwanderung von Arbeitskräften aus der Volksrepublik nach Hongkong. Seit 1997 sind 54 000 Bürger der Volksrepublik pro Jahr nach Hongkong ausgewandert. Ihr Anteil an der Hongkonger Bevölkerung übersteigt bereits zehn Prozent. Obwohl die Hongkonger Verwaltung ihre Partner auf chinesischer Seite zu migrationshemmenden Maßnahmen aufgefordert und die eigene Immigrationspolitik auf Zuwanderung von qualifizierten Fach- und Führungskräften abgestellt hat, kommen täglich immer noch 150 chinesische Übersiedler mit einfacher Qualifikation nach Hongkong. Das verursacht zusätzliche Belastungen des Hongkonger Arbeitsmarkts. Laut Umfragen der örtlichen Medien sieht mehr als die Hälfte der Hongkonger Bevölkerung den Zustrom von »Festlandchinesen« als zu hoch an.

Eine Liste von kritischen Vorbehalten Hongkongs gegenüber allzu engen Bindungen an die Volksrepublik wäre unvollständig, wenn sie nicht den massenhaften Aufkauf von Säuglingsnährmitteln oder die Belastung von Krankenhäusern und Geburtskliniken in Hongkong durch chinesische Touristen benennt. Diese Erscheinungen sind realen Entwicklungsproblemen in China zuzuordnen. Dazu gehören erhebliche Kontroll- und Verwaltungsdefizite in der chinesischen Lebensmittel- und Pharmaindustrie wie beim Skandal um verseuchte Babynahrung ebenso wie die bisher nur halbherzig gelockerte Geburtenkontrolle, marode Krankenhäuser und erhebliche Lücken in der medizinischen Versorgung ländlicher Gebiete. Im Falle des Entbindungsbooms chinesischer Babies in Hongkong kommt hinzu, dass diese Kinder durch Geburt automatisch Bürger Hongkongs werden und sich folglich als Erwachsene problemlos dort ansiedeln oder über Hongkong in Drittländer auswandern können.

Der wachsende materielle Wohlstand in Städten der chinesischen Ostküste - wohl aber auch die Folgen der chinesischen »Korruptionskultur« - haben eine Welle von Immobilieninvestitionen im Sonderverwaltungsgebiet ausgelöst, die zur Verknappung des Angebots an Wohnraum führte. Hongkonger Schulen bemerken den Zustrom von Kindern aus Guangdong, deren Eltern eine Ausbildung im Ausland bezahlen wollen oder das Bildungsangebot Hongkongs dem der Volksrepublik vorziehen.

Nicht zuletzt resultieren Vorbehalte gegenüber der Volksrepublik aus dem Selbstbewusstsein der internetaffinen jüngeren Generation Hongkongs, die ihren Wunsch nach frei bestimmtem Leben nicht in Einklang mit der politischen Enge des »Sozialismus mit chinesischen Eigenheiten« bringen kann. Dabei steht zum jetzigen Zeitpunkt weder die Forderung nach Loslösung von China im Raum, noch wird die wirtschaftliche Notwendigkeit des Anschlusses an die Volksrepublik bestritten.

Aber Hongkong hat sich in vielen alltagsrelevanten Bereichen seit 1997 schneller und nachhaltiger entwickelt als die übrigen Landesteile. In puncto Lebensqualität ist die Lücke zum Beispiel zwischen Hongkong und Shanghai größer geworden. Längst hat die Sonderverwaltungsregion ihr überkommenes Image als industrieller »Sweat Shop« des Westens abgelegt. Seine heutigen Entwicklungstreiber sind Finanzdienstleister, Transithandel, Logistik und Tourismus. Neben kundenfreundlichen Services, bietet die Stadt ihren Bewohnern moderne Verkehrsinfrastruktur, gepflegte Landschafts- und Naturparks, international vernetzte und in Asien renommierte Hochschulen, eine Vielzahl qualitativ anspruchsvoller Arbeitsplätze und eine gesellschaftliche Atmosphäre, in der das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen Alltagsgewohnheit ist.

In ihrer Gesamtwirkung bilden all diese Interessen, Vorbehalte und Probleme im Verhältnis zu China die tiefere Quelle politischer Frustration gegenüber der derzeitigen Hongkonger Regierung. Daraus resultiert ein hohes Maß nicht nur der Toleranz gegenüber den Demonstranten, sondern auch ihrer direkten Unterstützung aus Kreisen Hongkonger Intellektueller.