Numminen singt Wittgenstein

Finnland ist alles - nur nicht durchschnittlich. Von Erik Gloßmann

  • Erik Gloßmann
  • Lesedauer: 8 Min.

Man könnte auch so sagen: Finnland ist immer ein bisschen anders. Das beginnt mit der Staatsflagge; sie ist schlicht und schön: weiß wie der Pulverschnee im Winter und blau wie ein wolkenloser Himmel im Sommer. Das Kreuz ist angeordnet wie bei den Fahnen anderer skandinavischen Länder, zu denen Suomi, wie das Land auf Finnisch heißt, geologisch jedoch gar nicht gehört, denn es liegt nicht auf der skandinavischen Halbinsel. Mit Island konkurriert Finnland um den Titel «nördlichster Staat der Welt». Den Wettbewerb «Wer hat die meisten Binnengewässer» gewinnt das «Land der 10 000 Seen» (es sollen in Wahrheit 60 000 sein!) gegen den nordatlantischen Inselstaat, der nur eine mickrige blaue Lagune aufbieten kann.

Besiedelt wurde das Gebiet vor etwa 12 000 Jahren durch, wen wird’s wundern, Jäger und Fischer, andere Berufe gab es damals nicht. Erwähnt wurde die Gegend zwischen dem Bottnischen und dem Finnischen Meerbusen erstmals durch den Römer Tacitus (55 bis 120 n. Chr.), den Karl May der Antike, denn er beschrieb, wie sein sächsischer Kollege, gern Länder, die er nie gesehen hatte. So heißt es im letzten Kapitel seiner «Germania»: «Bei den Fennen herrscht unglaubliche Wildheit ...; zum Essen Kräuter, zur Kleidung Felle, zum Lager der Boden. Ihre einzige Hoffnung ist in den Pfeilen, die sie, des Eisens bar, aus Knochen bespitzen. Die nämliche Jagd nährt gleichmäßig Mann und Frau, denn die Weiber gehen gewöhnlich mit und nehmen ihren Teil der Beute. Die jungen Kinder haben gegen Wild und Regen keine andere Zuflucht, als dass man sie in irgendeiner Ästeverschlingung birgt ... Dennoch dünkt ihnen dies ein seligeres Leben, als auf Äckern seufzen ...» Bringt man die Übersetzung von 1876 ins heutige Deutsch, lautet die Zusammenfassung: Die Finnen, feministische Flexitarier, lebten damals kultur- und sorglos auf Bäumen in den Tag hinein.

So wäre es wohl ewig weitergegangen, hätte sich Schwedenkönig Erik IX. nicht aufgemacht, Teile des heutigen Finnland zu erobern und zu christianisieren. 1284 wurde das neu gebildete Herzogtum seinem Reich angegliedert. Die Eroberung wurde durch die Ansiedlung von Schweden im Westen und Süden des Landes abgesichert, vorzugsweise aus diesen rekrutierte sich die herrschende Schicht. Die Finnen dagegen waren freie, aber abgabepflichtige Bauern. Mitte des 16. Jahrhunderts wurde Finnland reformiert; ein Schüler Luthers, Mikael Agricola, übersetzte die Bibel und schuf damit die Grundlage für die finnische Schriftsprache. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatte Finnland rund 500 000 Einwohner; etwa 15 000 davon besuchten Deutschland, allerdings nicht als Touristen, sondern in den Reihen der schwedischen Streitmacht - um den europäischen Protestantismus zu retten, wie es hieß.

Fünfzig Jahre später begann die schwedische Herrschaft über Finnland zu wackeln. Das Russland Peters I. hatte sich zum neuen Global Player entwickelt und machte Schweden die regionale Vorherrschaft streitig. Nach verschiedenen Kriegen wurde aus dem schwedischen Großherzogtum ein zaristisches Großfürstentum, dem der neue Herrscher weitgehende Autonomie zugestand. Helsinki war die neue Haupt- und ab 1829 auch Universitätsstadt, dort gründete sich 1831 auch die Finnische Literaturgesellschaft, die entscheidend zur Herausbildung der Nationalliteratur beitrug.

Finnisch gehört zur kleinen finnisch-ugrischen Sprachfamilie und ist nahe mit dem Estnischen und entfernt mit dem Ungarischen verwandt. Unter schwedischer Herrschaft wurde die Sprache geduldet, aber nicht gefördert; die wenigen Bücher, die in Finnisch gedruckt wurden, hatten religiöse Inhalte oder waren amtliche Schriften. Man kann es sich kaum vorstellen, aber das Finnische wurde (in Finnland!) erst 1863 neben dem Schwedischen zur gleichberechtigten Amtssprache! So verwundert es nicht, dass am Beginn der finnischen Nationalliteratur ein Buch stand, das auf Schwedisch geschrieben wurde: Johan Ludvik Runebergs (1804-1877) romantisches Epos «Fähnrich Stahls Erzählungen» (1848) schildert den Freiheitskampf von 1809; die einleitenden Verse wurden später zum Text der finnischen Nationalhymne.

Das erste finnischsprachige Buch, das in die Weltliteratur einging, war die bald als Nationalepos bezeichnete Dichtung «Kalevala» (1849) des Elias Lönnrot (1802-1884). Das Sympathische, vielleicht Typisch-Finnische an diesem Werk ist, dass es sich nicht vordringlich mit Verrat, Mord und Totschlag beziehungsweise Troja-Burgen oder Nibelungenschätzen beschäftigt, sondern mit Zauberei und einer Leben und Fruchtbarkeit spendenden Mühle namens Sampo. Die Helden sind auch keine Krieger, sondern Figuren aus dem Volk. Ob die von Lönnrot verarbeiteten Überlieferungen tatsächlich zur Erforschung der finnischen Volkskultur genutzt werden können, ist heute umstritten. Aber auch wenn es sich «nur» um ein Großgedicht der Romantik handeln sollte - lesenswert ist es noch immer!

Das gilt auch für den ersten Roman der finnischen Nationalliteratur, den Aleksis Kivi (1834-1872) im Jahr 1870 veröffentlichte. «Sieben Brüder» wurde bei Erscheinen so heftig angefeindet, dass der Autor zwei Jahre darauf an Alkohol und Depressionen zugrunde ging. Kivi hat nicht mehr erlebt, wie sein volksnaher, humorvoller Roman zum Klassiker und er selbst zum nationalen Idol wurde. Am 10. Oktober, seinem Geburtstag, werden heute in Finnland ihm zu Ehren Flaggen gehisst!

Die beiden Grundsteine waren nun gelegt, und die nationale Literatur beider Sprachen blühte auf. Zu den Autoren, die über die Landesgrenzen hinaus Beachtung fanden, gehörten der Naturalist Karl August Tavaststjerna (1860-1898), der Realist Juhani Aho (1961-1921), die Frauenrechtlerin Minna Canth (1844-1897), der Moralist Johannes Linnankoski (1869-1913) und die Lyrikerin Edith Södergran (1892-1923), deren Gedichte auch in Deutschland viele Generationen begeisterten.

Um die finnische Nation war es dagegen nicht so gut bestellt. Finnland war bei der Industrialisierung zu spät gekommen und gehörte zu den ärmsten Ländern Europas. Unter Zar Nikolai II. begann eine forcierte Russifizierung des Landes, die erst durch die Revolution von 1905 gestoppt wurde. In deren Folge gab es 1906 eine neue Verfassung und ein allgemeines Stimmrecht für das neue Einkammer-Parlament. Damit war Finnland das erste europäische Land, in dem Frauen wählen durften!

Die nationale Unabhängigkeit erreichte Finnland durch die russische Oktoberrevolution. Am 6. Dezember (heute Nationalfeiertag) 1917 nahm der finnische Landtag die Unabhängigkeitserklärung an, die vom Rat der Volkskommissare bestätigt wurde. Sowjetrussland war der erste Staat, der Finnland anerkannte. Der nun folgende Machtkampf zwischen bürgerlichen Parteien und den Sozialdemokraten, ausgefochten von «weißen» Schutzkorps und Roten Garden, gehört zu den schwärzesten Kapiteln der finnischen Geschichte. Die «Weißen» riefen schließlich die deutsche Ostseedivision zu Hilfe, die den «Roten» in den Rücken fiel und den Kampf entschied. Die Überlebenden «Roten», auch Frauen und Kinder, wurden in Lagern konzentriert; es sollen etwa 80 000 gewesen sein, von denen fast 15 000 umkamen. Im Bürgerkrieg von 1918 starben so mehr Menschen als im Winterkrieg von 1940. Frans Eemil Sillanpää (1888-1964), der selbst gezwungenermaßen im Schutzkorps kämpfte, hat die grausamen Geschehnisse in seinem Roman «Frommes Elend» (1919) geschildert. Sillanpää erhielt übrigens 1939 als erster und bisher einziger Finne den Nobelpreis für Literatur.

Die Auseinandersetzung von Rechten und Linken wurde erst beendet, als sowjetische Truppen 1939 in Finnland einmarschierten und nach heftigen Kämpfen Teile Kareliens besetzten. Der «Winterkrieg» schweißte die Finnen zusammen und sicherte ihnen Sympathien in aller Welt. Weniger bekannt ist der sogenannte «Fortsetzungskrieg»: Als Deutschland die Sowjetunion überfiel, brachen finnische Politiker den Friedensvertrag von 1940 und ließen ihre Truppen an der Seite deutscher Verbände gegen die Rote Armee kämpfen. Der Ausgang dieses Abenteuers ist bekannt. Väinö Linna (1920-1992) hat den Zweiten Weltkrieg aus finnischer Sicht in «Der unbekannte Soldat» (1954) eindrucksvoll beschrieben. Eine andere Perspektive wählte Leo Ågren (1928-1984) in seinem Antikriegsroman «Leo Nilheims Geschichte (1971) - er schildert die Geschehnisse aus der Sicht eines Rotarmisten, der in finnische Kriegsgefangenschaft gerät und unter anderem die von finnischer Seite unterstützte (und lange vertuschte) Verfolgung von Juden miterlebt.

Seit rund 70 Jahren setzt ein neu-trales Finnland auf störungsfreie nachbarschaftliche Beziehungen und ist gut damit gefahren. Nach dem Zweiten Weltkrieg blühte das Land auf und erwarb sich großes Ansehen in der Welt. Das finnische Schulsystem z.B. - vergleichbar etwa dem der DDR - ist laut PISA-Studie eines der besten der Welt. Finnisches Design und finnische Architektur werden ebenso geschätzt wie die Filme Aki Kaurismäkis oder die vielfältigen musikalischen Ausdrucksformen, die das Land hervorgebracht hat. Man mag an den Komponisten Sibelius denken, aber auch die »Leningrad Cowboys« stammen aus Finnland. Es gibt sogar einen finnischen Tango, der mit den Namensvettern aus Paris oder Argentinien nicht allzu viel zu tun hat und sich am besten tanzen lässt, wenn man zuvor eine Flasche guten finnischen Wodkas getrunken hat. Eine mittelprächtige, in albernen Kostümen auftretende Rockkapelle namens Lordi hat es einmal geschafft, den Eurovisions-Schlagerwettbewerb zu gewinnen. Und auch Apocalyptica ist eine besondere Band: Vier Finnen spielen martialisch Heavy Metal - auf klassischen Streichinstrumenten! Wem das noch nicht verrückt genug ist, kann sich anhören, wie ein Finne namens M. A. Numminen philosophische Texte von Ludwig Wittgenstein ... singt!

Länder wie Spanien, Italien oder Mexiko werden bevorzugt in Schlagerschnulzen besungen. Finnland dagegen wurde durch ein Lied von Monty Python´s Flying Circus geehrt. Dort heißt es:

»Finland, Finland, Finland,/ The country where I quite want to be,/ Your mountains so lofty,/ Your treetops so tall, Finland, Finland, Finland, Finland has it all.«

Dem ist nichts hinzuzufügen.

PS: Obwohl, da ist doch noch etwas - Eishockey!!!

PPS: Und die Sauna haben die Finnen auch erfunden, irgendwann ...

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