Der Traum von Arkadien

Die Ausstellung »Augen auf! Thomas Mann und die bildende Kunst« in Lübeck

  • Kerstin Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

Vor genau einhundert Jahren las Thomas Mann zum ersten Mal aus dem »Zauberberg«. Das Buch war noch lange nicht fertig, ja genau genommen hatte er es eben erst begonnen, und er wusste, er würde noch viele Jahre lang sein Sklave sein. Umso wichtiger aber war es, den Widerschein des Romans auf den Gesichtern der ersten Zuhörer zu studieren.

Thomas Mann wählte am 30. Januar 1914 in der namhaften Münchner Galerie Caspari die Ankunft Hans Castorps auf dem »Zauberberg«, schon weil er gar nichts zu wählen hatte, denn er war noch nicht viel weiter: »Zwei Reisetage entfernen den Menschen - und gar den jungen, im Leben noch wenig wurzelnden Menschen - seiner Alltagswelt, all dem, was er seine Pflichten, Interessen, Sorgen, Aussichten nannte.« Der Vortragende hatte jedoch zunehmende Schwierigkeiten, sich auf den Leichtwurzler und seine Ankunft im Lungenheilsanatorium Bergfried zu konzentrieren, denn in seinem Rücken hingen mehrere ihn stark beunruhigende Bilder.

Sie zeigten eigentlich nichts Besonderes, nur mangelhaft oder gar nicht bekleidete junge Menschen, allen möglichen Erholungen hingegeben. Sie flegelten auf Felsen und am Strand, tranken aus Quellen, übten sich im Bogenschießen oder ritten am Meeressaum entlang. Ohne Hose. Die Galerie hatte gerade eine Ausstellung des Malers Ludwig von Hoffmann eröffnet.

Besonders fesselte den Vorlesenden eine Dreiergruppe von Knaben vor leuchtend blauem Hintergrund. Der werdende Großschriftsteller wird dem nicht ganz so großen Maler bald mitteilen, dass er dieses Bild unbedingt haben müsse, nur könne er es im Augenblick nicht bezahlen. Falls aber jemand käme, der es ebenfalls kaufen wolle und das sogar könne, dann müsse der Maler es festhalten, denn dann werde er, Thomas Mann, sein letztes Hemd verkaufen, um es zu erwerben. Mann formulierte das nur etwas zurückhaltender.

Es ist wohl nicht zu viel gesagt, »Die Quelle« von Ludwig von Hoffmann das Bild seines Lebens zu nennen. Thomas Mann wird es überallhin mitnehmen, auch ins amerikanische Exil. Wenn er vom Schreibtisch aufsah, sah er dieses Bild.

In Thomas Manns Heimatstadt hat soeben eine große Doppelausstellung eröffnet, ihr gemeinsamer Titel lautet: »Augen auf! Thomas Mann und die bildende Kunst«.

So etwas gab es noch nie.

Schon deshalb nicht, weil bis eben galt: Dieser Autor besaß gar kein Verhältnis zur bildenden Kunst. Das Mann-Handbuch stellte noch 1991 fest, dass die bildende Kunst im Leben des Schriftstellers nur eine untergeordnete Rolle spielte. Hier stimmt etwas nicht, ahnten Alexander Bastek vom Museum Behnhaus Drägerhaus und Anna Marie Pfäfflin vom Buddenbrook-Haus und machten sich mit detektivischem Ehrgeiz auf eine vieljährige Spurensuche.

Wahrscheinlich wäre Thomas Mann vom Resultat selbst angenehm überrascht. Ein Ohrenmensch sei er gewesen, kein Augenmensch, sagte er. Und er war gewissenhaft genug, seinem Urteil, die Malerei betreffend, tief zu misstrauen. Auch scheute er nicht den Beinahe-Kitsch. 1900 sah der junge Autor auf der Münchener Sezessionsausstellung ein Gemälde, auf dem ein junges Mädchen etwas nachlässig an einem Baum lehnt, ein Herz in der Hand, »mit dem sie auf freche und graziöse Art kokettiert« während sein mutmaßlicher Besitzer, der Herzverlierer, vor ihr kniet. »Das Bild hat großen Eindruck auf mich gemacht«, teilte Thomas Mann einem Freund mit, »woraus wohl ohne Weiteres folgt, dass es malerisch nicht fünf Pfennige wert ist.« Kein Mensch kennt mehr den Schöpfer dieses Gemäldes, den Berliner Maler Martin Brandenburger, ein Umstand, der dem Selbstbezichtiger recht zu geben scheint.

Dass Mann ein Verhältnis wohlwollender Herablassung zu jeglicher Kennerschaft unterhielt - schließlich sind Malerei und Plastik nicht um der Kunstgeschichtler willen da -, macht nicht den geringsten Reiz dieser Ausstellung aus. Und die vorsätzliche Laienhaftigkeit, das Bekenntnis zur radikalen Subjektivität des Urteils, geht schließlich weiter: Dieser Autor gedachte gar nicht zu verbergen, das Letzteres nicht zuletzt einer seelischen Bedürftigkeit folgt. Der scheinbaren Quell-Idylle von Hoffmann widersprach eine Savonarola-Skulptur mit festem Platz auf Manns Schreibtisch. Sie war das Sinnbild der durchgeistigten Radikalität mit Hang zur Barbarei. Was Mann zudem immer wieder faszinierte, waren gelungene Übersetzungen innerhalb der Künste: Was für ein Ereignis, wenn ein Bild plötzlich beginnt, Musik zu machen, wenn man es hören kann.

Was den Autor damals und heute von manchem Kunstsachverständigen unterscheidet, ist, dass er auch ausdrücken kann, was er sieht. 1925 besuchte er - wiederum in der Münchner Galerie Caspari - eine Max-Oppenheimer-Ausstellung, in der ihn vor allem ein Bild faszinierte: die Darstellung eines großen Orchesters. Wenig später erfuhren die Leser des Berliner Tagblatts: Das Bild »zeigt ein modernes Orchester …, geführt von einem Dirigenten, dessen brillen- und lippenscharfe Physiognomie in ihrer Willensekstase und religiösen Intelligenz an diejenige Gustav Mahlers erinnert. Sein vor byzantinischem Golde stehendes Profil, sein emporgeworfener Arm befehligen ein brausendes Tutti, das man hört, - wahrhaftig!«

»Brillen- und lippenscharfe Intelligenz«? Der Maler wird es sich gemerkt haben. Und schuf bald darauf das wohl schönste Porträt Thomas Manns, an dem vor allem eins ins Auge fällt - die Brille, nein, die Brillengläser, sie scheinen die Wirklichkeit gleichsam in Prismen zu zerlegen. Das war eine kongeniale Thomas-Mann-Deutung, der Autor, der Welt Liebeserklärungen unterbreitend, die zugleich Misstrauensanträge sind und umgekehrt. Kein Sehen ist (wie so oft der Verstand) einnamig!

Oppenheimer war, was man vielleicht einen gemäßigten Expressionisten nennen könnte, einen Dreiviertel-Expressionisten. Und die Oppenheimer-Wertschätzung Thomas Manns ist umso bemerkenswerter, da er dieser Kunstrichtung eigentlich mit großer Reserve begegnete, zu unterschiedlich waren die Grundgesten ihrer Kunst. Bei den Expressionisten ist es das Bekenntnis zur Radikalität, zur großen Einfachheit, bei Thomas Mann die Behutsamkeit, die unendliche Nuancierung und Staffelung des Ausdrucks.

Dennoch wird er etwa das »Stundenbuch« Frans Masereels, diesen 165 Motive umfassenden »Roman ohne Worte«, mit einem behutsam deutenden Essay begleiten, der die Diagnose »erlittener Modernität« stellt. Und noch in seinem Todesjahr schreibt er einen Text zu Hans Arps gestrichelten, fast gänzlich abstrakten Tierdarstellungen. Thomas Mann nimmt darin Anteil selbst am Lebenslauf einer Raupe und erklärt sie zu »der nach Herkunft und Schicksal geheimnisvollen, tief rührenden Heldin« der ersten Blätter Arps.

Die bildende Kunst, gesehen mit den Augen Thomas Manns: Natürlich treffen wir in Lübeck auch auf das Bild, das sich der 14-jährige Schüler aus der Zeitung ausgeschnitten und über seinem Pult ständig vor Augen hatte. Es ist der »Kinderkarneval« von Friedrich August Kaulbach, der als privates Auftragswerk entstand, aber bald - immer wieder abgedruckt, selbst als Motiv auf Handarbeitskästen, Steingutgeschirr und Papierservietten wiederkehrend - ungeheure Popularität erlangte. Es zeigt fünf als Pierrots verkleidete Kinder. Im Frühjahr 1904 erblickte Thomas Mann, angenehm verblüfft, im Hause Pringsheim schließlich das Original: Der Harlekin links außen war seine Braut Katja, er hatte sie schon immer gesehen.

Vater Pringsheim, von dessen bedenklichem Kunstgeschmack »Augen auf!« auch Zeugnis gibt, wird dem jungen Paar die erste Wohnung einrichten, und zwar im Stil der Neorenaissance.

Alle Künste, wusste Thomas Mann, sind tief verwandt, denn es geht in Literatur, Malerei und Musik immer um dasselbe: um den gelingenden Ausdruck, der noch das Subjektivste zu objektivieren vermag. Dass Mann den Illustrationen seiner Bücher u.a. von Thomas Theodor Heine (»Wälsungenblut«), Wolfgang Born (»Der Tod in Venedig«) oder Hermann Ebers (»Unordnung und frühes Leid«) nicht ohne Reserve gegenüberstand, wird verständlich, da jede Illustration, bei aller Nähe zum Text, doch eine andere Geschichte erzählt, nämlich ihre eigene. Das Buddenbrook-Haus zeigt Manns Werk im Spiegel seiner Illustrationen.

Nicht unerwähnt darf der unmittelbar praktische Gebrauch bleiben, den der Autor von Kunstwerken machte. 1923, fast zehn Jahre nach jener ersten »Zauberberg«-Lesung in der Galerie Caspari, schrieb Thomas Mann den Schneetraum des Hans Castorp. Der junge Patient des Lungenheilsanatoriums hatte, wie jeder weiß, etwas den Weg verloren, wobei ihm doch die Schneewüste zunehmend so heimatlich vorkam wie das Meer, dort alles blau, hier alles weiß, zwei Mal die »Urmonotonie des Naturbildes«, und plötzlich sah der Erfrierende einen südlichen Strand vor sich: »Menschen, Sonnen- und Meereskinder, regten sich und ruhten überall, verständig-heitere, schöne junge Menschheit, so angenehm zu schauen - Hans Castorps ganzes Herz öffnete sich weit, ja schmerzlich weit und liebend ihrem Anblick.«

Zeile um Zeile beschreibt Thomas Mann die Bilder und Skizzen Ludwig von Hoffmanns, auch »Die Quelle«. Heute stünden sie wohl sämtlich unter Verdacht. Wo Frühere Arkadien sagten, sagt der Zeitgeist nur: Pädophilie. Ist das erworbene Dummheit?

»Augen auf! Thomas Mann und die bildende Kunst« bis zum 6.1. 2015 im Lübecker Museum Behnhaus Drägerhaus und im Buddenbrookhaus,

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