Der Zar wollte eigentlich nicht

Die beiden Balkankriege als Vorboten des Ersten Weltkrieges. Von Armin Jähne

  • Armin Jähne
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit Katharina II. war die »Orientalische Frage«, das Problem der Meerengen, sprich des Bosporus und der Dardanellen, ins zentrale Blickfeld russischen Interesses und russischer Außenpolitik gerückt. Die Beherrschung dieser geopolitisch sensiblen Durchfahrten würde Russland einen enormen Machtzuwachs bringen, seine Einflussnahme auf den Balkan erleichtern und seine Rolle als Schutzmacht der dortigen slawischen und christlich-orthodoxen Völker stärken, die Untertanen des Osmanischen Reiches waren.

Der Russisch-Türkische Krieg von 1877/78 endete mit einem Sieg Russlands. Die endgültige Lösung der »Orientalischen Frage« schien in greifbare Nähe gerückt. Petersburg aber zögerte, vielleicht eingedenk des Desasters im Krimkrieg (1853 -1856), als Russland sich einer türkisch-englisch-französischen Koalition gegenübersah. Der Berliner Kongress 1878 zog dann Kompromisse einer endgültigen Regelung der politisch und ethnisch bedingten Rivalitäten auf dem Balkan vor. Die Region wurde zu einem Pulverfass, an das nur noch die Lunte zu legen war. Was dann auch am 9. Oktober 1912 geschah.

Der 1. Balkankrieg begann in Montenegro. Einbezogen wurden wenige Tage später Bulgarien, Serbien und Griechenland. Die osmanischen Truppen wurden in mehreren Schlachten vernichtend geschlagen. Laut Londoner Friedensvertrag von 1913 behielten die Türken auf europäischem Boden nur noch Istanbul und einen Rest Ostthrakiens. Das den Osmanen verloren gegangene Gebiet sollte unter den Siegern aufgeteilt werden. Darüber kam es zum Streit, von Serbien provoziert. Am 30. Juni 1913 attackierten bulgarische Truppen die serbischen und griechischen Stellungen. Der 2. Balkankrieg war entfacht, in den sich auch wieder die Türkei sowie Rumänien einklinkten. Bulgarien erlitt eine desaströse Niederlage. Eben eroberte Gebiete, darunter Adrianopol, fielen zurück an die Türkei. Der anschließende Friedensvertrag von Bukarest im August 1913 legte zudem die Dreiteilung Makedoniens zwischen Serbien (Wardar-Makedonien), Griechenland (ägäisches Makedonien) und dem jetzt stark benachteiligten Bulgarien (Pirin-Makedonien) fest.

Was auf den ersten Blick wie ein regionaler Balkan-Konflikt aussah, trug - da im Hintergrund die europäischen Großmächte agierten - den Keim einer überregionalen bewaffneten Auseinandersetzung in sich. Michael W. Weithmann schreibt in seiner »Balkan-Chronik« (1997) wohl nicht zu Unrecht: »Der Erste Weltkrieg beginnt in Südeuropa nicht erst 1914, sondern bereits zwei Jahre vorher mit den zwei Balkankriegen.«

Zur Erinnerung: Russland begleitete den Beginn des 1. Balkankrieges mit einer »Probemobilisierung« und zwang so Wien, größere Truppenmassen nach Galizien zu verlegen. Die Vermutung, dass beide Seiten beabsichtigten, auch direkt in den 1. Balkankrieg einzugreifen, ist keinesfalls abwegig. Zumindest wurde die Frage in St. Petersburg vom Ministerrat in dessen November- und Dezembersitzungen 1912 erörtert; die High Society in Petersburg und Moskau war zum Krieg bereit, wollte den »südslawischen Brüdern« helfen. Auch der Vorsitzende der Reichsduma Michail Rodsjanko bejahte einen Kriegseintritt, ebenso der Führer der russischen Falken, Großfürst Nikolaj Nikolaevič.

Eine völlig entgegengesetzte Haltung nahm hingegen der Zar ein. Ganz im Sinne des 1911 ermordeten Premierministers Pjotr Stolypin war er ein strikter Gegner des Krieges. In dieser seiner Haltung ist er sehr wahrscheinlich auch von Grigorij Rasputin bestärkt worden, der in Kenntnis der Stimmung im russischen Volk vor einem Waffengang warnte. Wie aus einem Geheimdienstdossier hervorgeht, meinte Rasputin, dass die »kleinen Brüder« auf dem Balkan es »nicht wert sind, dass man ihretwillen auch nur einen russischen Mann verliert«. Rasputin befand, die Russen seien noch nicht wieder bereit zu kämpfen, »bevor wir uns von den Erschütterungen des Japankrieges nicht erholt« hätten. Der Einfluss des Wanderpredigers auf Nikolai II. erfolgte wohl über die Zarin, die - mit angstvollem Blick zurück auf den Russisch-Japanischen Krieg und die nachfolgende Revolution von 1905 - jeglichen weiteren Krieg als Gefahr für die Dynastie ablehnte. Fest steht, eine aktive Parteinahme Russlands im 1. Balkankrieg hätte wie die Einmischung anderer Großmächte den Weltkrieg anderthalb Jahre früher beginnen lassen. Dass gerade die Todesschüsse von Sarajevo zum Auslöser der Katastrophe werden sollten, war dennoch die logische Konsequenz aus der Konfliktlage auf dem Balkan.

An diese im Jubiläumsjahr wenig beachtete Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges erinnert eine Konferenz, zu der am kommenden Freitag die Leibniz-Sozietät sowie die Makedonische Akademie der Wissenschaften und Künste nach Berlin einladen.

»Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan. Großmachtinteressen und Regionalkonflikte (von Berlin 1878 bis Neuilly 1919/1920)«, 31.10., 9.30 Uhr, Rathaus Berlin-Mitte, Robert-Havemann-Saal, Karl-Marx-Allee 31, 10178 Berlin.

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