Hinterhöfe und Schlachthöfe

Drei Stunden Dokumentarfilm über die Schauspielerin Käthe Reichel

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Es beginnt mit Blumen unterm Schnee, vorm Haus der Reichel in Buckow. Es sind - Kunstblumen. So leuchtet das Rot gegen den Frost. So behauptet sich das Gebilde gegen das Unbill, die Kunst gegen das Leben. Die Kunst - und das Künstliche. So wird Reichel dann selber durch Schneegestöber laufen: als sei auch sie eine Kunstblume. Die eine Blume des Bösen werden kann, wo Realität stört.

Käthe Reichel (1926-2012): Schauspielerin am Berliner Ensemble, am Deutschen Theater. Aber nur ein paar Rollenfotos zeigt der Film. Es ist keine künstlerische Biografie. Es ist der Versuch über ein Leben zwischen der Angebotswirtschaft auf dem Rollenmarkt des Lebens und der Emanzipation davon. Petra Kelling, Richard Engel und Christine Boyde drehten »Aus den Träumen eines Küchenmädchens. Annäherung an Käthe Reichel«. Im vollbesetzten Berliner Kino »Babylon« hatte der Film am Sonntag Premiere.

Dreizehn Jahre mit der Kamera in Reichels Nähe. Im Haus, im Garten, bei Lesungen, auf Kundgebungen. Wie ein Tagebuch aus Bildern. Eine Erzählung, wie anstrengend es ist, der Mensch zu sein, der man sein möchte. Oder zu sein glaubt. Das durchzuhalten, was man will. Oder immer weiter das zu wollen, was man doch nie durchhalten kann.

Drei Stunden Film. Er fließt. Er schickt den Bildern keine Achtungszeichen voraus, keine Bedeutungszeichen hinterher. Er ist Montage, aber er überlässt sich den Momenten. Er hat Richtung, aber hält sich gern auf. Starke Bilder. Wie die Reichel Schauspielstudenten von der Textbehandlung erzählt: die Lippen, die Zähne seien unschuldig, wenn sie erstmalig die Worte berühren. Wie sie ganz selbstverständlich ihre Unerträglichkeit beim Probieren gesteht, eine Unerträglichkeit, die von der Ganzfaserigkeit ihres Arbeitens kommt. Wie sie ihre Gesprächspartnerin Petra Kelling immer wieder zum Singen auffordert, kartoffelmesserfuchtelnd. Wie sie ein Gedicht Brechts, das an der Außenwand ihres Hauses hängt, so liest, als habe sie nie davon gehört. Wie sie im Gespräch vor der Kamera in den leicht aufkommenden Wind grüßt, also ihren B. B. grüßt (»Windbriefe« hat sie an den Dichter geschrieben, ihr erstes Buch). Wie ihr, während sie aus dem Auto steigt, das Auftrittskleid auf den Boden fällt und sie sagt: »Dreck ist gut«. Wie sie zum Schluss, fast vergeblich, in weiße Schuhe zu schlüpfen versucht - die zarte Gegerbte nun eine noch zarter Gebrechliche.

Sie muss Güte produzieren, unbedingt. Sie muss wirken, ohne jeden Aufschub. Sie wollte, dass der Film über sie »Die Schülerin« heißt. Schülerin Brechts. Das heißt: den Auftrag erfüllen. Die heilige Käthe der globalisierten Schlachthöfe sein. Überall das Stück lesen, alle Rollen selber spielen, als schriee sie am Kreuz (»es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht«), als predige sie vom Berg, als halte sie Gericht; und wer im Saal mit Bonbonpapier knistert, den treffen Blick und Ermahnung; ein Bann. Beschwörendes Spiel am immer mitgeschleppten Lesepult, »meine Krücken«, sagt sie, das schwarze Holz, auf das sie ihre Hände schlägt, wie man auf die Pauke haut, beim heftigen Glück der Mission. In der Kirche, vor Gewerkschaftsfunktionären, in Theatern. Ein herb funkelnder Solitär. Beseelt, beherrscht vom höheren Befehl, zwischen dem Gegenstand des Vortrags und ihrem Zustand als Vortragende, als eine Leid und Losung Tragende keinen Unterschied zuzulassen. Einfühlung, Einwühlung, Einheizung.

Eine Hommage. Liebevoll, ausdauernd und innig - und inständig im Innehalten. Aber auch eine Tragödie. Der Film wandert unmerklich aus. Er zieht von den schönen Bildern mit Rehen und beglückten Zuschauergesichtern hinaus in die Nacktheit eines unglücklichen Lebens. Er offenbart Gezeichnetsein. Er endet als bitteres, gefährlich nacktes Porträt.

Filmregisseur Rainer Simon spricht vom Schicksal der Reichel, aus gelingender schauspielerischer Jugend nie wirklich zu weiteren großen Rollen gelangt zu sein. Gewiss, ihr genügte oft ein einziger Auftritt, um sich einmalig einzukerben - und sie kerbte sich ein als das, was ihrer Existenz zugrunde lag: als eine geprügelte Närrin, als eine traumatisierte Traumtänzerin, als eine liebessüchtige Unnahbare. Aber doch nie strahlte der wahre Ruhm, der dieser Brillanz einer verrückten, verschrobenen, tief verletzlichen Kreaturen-Fremdheit gemäß gewesen wäre. Sie war früh und für immer verloren an den großen Gewinn Brecht. Wirklich: verloren. An die Illusion, er bleibe ihr und also an den Wahn, es sei immer noch Anfang (»wenn ich in die Hölle komme, hoffentlich grüßt er mich«).

Der Sohn Sebastian wird nicht ein Kind von Brecht sein, sondern eines vom Maler Gabriele Mucchi. Sebastian wird aus dem Leben gehen, zu groß der Druck. Einmal bekommt der kleine Junge eine Wasserpistole geschenkt und zielt auf die Mutter. Käthe Reichel lässt sich fallen, bleibt minutenlang liegen, wie tot, sie kann das, sie ist Schauspielerin, der Junge schreit, schreit, schreit, sie hält das durch. Friedenserziehung als Seelenfolter. Unerträglich. Und jetzt fällt auf: Nie im Film sieht man die Reichel als Zuhörende. Sie ist Gebende, Schenkende, aber im Grunde kassiert sie auch. Sie nimmt ein und vereinnahmt. Unrettbar einsam in einem Rollenspiel, das ihre Unfähigkeit zur wirklichen Nähe verdrängt. Auch Nähe zu sich selbst. Ihr Tanz: Distanz. Sie ging für Bischofferode auf die Straße, rief russischen Müttern während des Tschetschenienkrieges zu: »Versteckt eure Söhne!« Und dann sammelt sie Geld für hundert Häuser in einem Dorf Vietnams. Will Schweine und Hühner stiften. Fährt hin und ahnt wohl, was, ja: gespielt wird - die Dorfbewohner schleppen ihr eigenes Vieh herbei, um der berühmten Frau aus Deutschland vorzugaukeln, wie sehr sie sich über die »Geschenke« freuten.

Wie da plötzlich in einer traurigen Altfrauenseele alle Kulissen der Selbststilisierung einstürzen. Wie abweisend sie wird, leere kalte Blicke. Sie ist in Vietnam und doch weit weg. Spricht nicht mehr mit Petra Kelling. Der Film zeigt die Eröffnung eines Supermarktes in Hanoi. Wir sehen die hungrigen Blicke auf den Glanz, sehen eine alte Vietnamesin, die Angst vor der Rolltreppe hat. Und Reichel hockt verschlossen im Hotel. Ein Stein. Ein Jahr lang werden die Filmarbeiten unterbrochen bleiben. Kein Kontakt mehr. Und später wird Reichel auf einer Hartz IV-Demonstration in Berlin reden, Ruhe für sich einfordern, als stünde sie vor kleinem Kreis und nicht vor Tausenden, die endlich weiterziehen wollen. Kelling spricht von der »Kulturlosigkeit« der rumorenden, achtungslosen Zuhörer. Es ist auch das bittere Bild einer Frau, deren Zeit vorbei ist.

Der Film versteht sich vor allem als Kulturkritik obwaltender kaltkapitalistischer Umgangsformen, sozial wie menschlich, indes: Die schmerzliche Lehre (aller Existenz!) lautet: Das Vergangene ist möglicherweise reicher, das Gegenwärtige aber stets komplexer. Und Reichel ist in ihrer Stärke, ihrer zähen, zugkräftigen Würde auch ein Mensch, der irgendwann noch immer vom Leben erwartet, was er doch längst verklärt hat. Das treibend Tolle ist auch das Traurige. Das Holde ist auch das um Halt Bibbernde, und das Hehre (Vietnam!) ist auch das Hohle.

Die Kämpferin und Spielerin, mit Rucksack und flinken Füßen in großen Schuhen. Die Koboldin. Die Klette. Die Kindliche. Die sich lebenslang als »Bettelkind« wähnt. Die gern »böse Sachen« schreibt. Die herrlich »Waldeslust« singt. Die ein aufbrechender wie gebrochener Mensch ist. Aus ruinösen Hinterhöfen kam sie (wo die Kleine zusehen muss, wie ein Mann seinen Hund aus dem Fenster wirft, weil er kein Geld für Knochen hat), stampfte dann in die fabulösen Schlachthöfe des neurotisch geliebten Dichters. Adolf Dresen und Horst Lebinsky, Dagmar Manzel und Christian Grashof, viele andere wären noch zu nennen, erzählen von ihr. Sie selber lächelt, schimpft, kreischt, trällert, tänzelt, tobt sich durch den Film. Petra Kelling - bis zuletzt sorgende Freundin, helfende Vertraute, hartnäckig Fragende, mitunter Zurückgestoßene - spricht den Kommentar als Liebeserklärung, auch als berührte, aufgestörte, bisweilen ratlose Selbsterkundung; sie begleitete die notorisch närrische Auferstehung der Käthe Reichel nach 41 Jahren am Deutschen Theater und gibt ihr nun das Kommunistische Manifest und den Johanna-Stücktext mit ins Grab.

Die Reichel ist spielend eine Ein- und Heimleuchtende, die so viel ausblendet; ist kokonsüchtig, um im tapferen, törichten, trommelnden Sinne sich einzuspinnen und für uns das auszuspinnen, was werden könnte, wenn … Sie ist nicht von dieser Welt, sie ist von der besseren Welt. Umherwandern, umhergeistern wie eine nie abgelöste, fast schon vergessene Wärterin im Utopieraum, der immer nur ein denkbarer Raum ist - das ist ihr Drang, ihr Defekt, ihre Diktion.

Die Musik zum Film gehört zu dem, was Sohn Sebastian hinterließ. Ein kräftiger Klang Leben. Er reißt mit, weil er nicht verschweigt, was Leben immer auch einreißt.

Weitere Aufführungen des von den Machern ohne institutionelle Unterstützung produzierten Films sind geplant, aber noch nicht terminiert. Auch auf DVD soll er in naher Zukunft zu sehen sein.

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