Zwischen Apokalypse und Genesis

Im Kino: »Das Salz der Erde« von Wim Wenders und Juliano Ribeiro Salgado

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Film hat, was wenige Filme haben, einen Untertitel. Er lautet: Eine Reise mit Sebastião Salgado. Gemeint ist die Lebensreise eines Fotografen, der die Welt durch seine Kamera sieht, diese wiederum gesehen mit den Augen seines Sohnes als Co-Regisseur und Wim Wenders als Regisseur dieses ungewöhnlichen filmischen Porträts. »Das Salz der Erde«, so der Titel, meint also immer den Zeugen, den Chronisten, schließlich den Gestalter jener geradezu weltgeschichtlichen Perspektive der Fotos von Sebastião Salgado.

Wie können Fotos weltgeschichtlich werden? Indem sie das fotografische Abbild mit dem mythischen Urbild verknüpfen, auf geradezu archaische Weise elementar werden. Ins Bild rückt dabei ein einziges großes Schauspiel in verschiedenen Einstellungen: das Wechselspiel von Mensch, Natur und Technik. Diesen Zug ins Ursprüngliche haben die Fotozyklen des in Paris lebenden Sebastião Salgado (geboren 1945) seit Langem, zumindest aber seit »Workers: Archaeology of the industrial age« von 1993. Die Geburt des Industriezeitalters vollzieht sich immer dort, wo Menschen Lasten tragen müssen, die über ihre Kräfte gehen. Wir sehen Arbeiter an verschiedenen Orten bei der immer gleichen Verausgabung: Knietief im Morast oder im staubigen Nebel der Steinbrüche. Ihre einzigen Werkzeuge: Schaufeln, Hacken und Körbe zum Abtransportieren dessen, was sie der Erde entrissen.

»Arbeit ist die große Selbstbegegnung des Menschen«, heißt es bei Georg Maurer im Zyklus »Das Unsere«. Sieht man diese Bilder vom Stoffwechsel des Menschen mit der Natur namens Arbeit, dann kommen einem Zweifel. Dies sind keine Heroen der Arbeit, sondern moderne Sklaven, die nur einen Vorzug gegenüber der Maschine besitzen: Sie sind billiger. Und so tauchen wir ein in diese Bilderwelt, die von einer magischen Unmittelbarkeit ist. Salgados Fotos verwandeln Objekte der Ausbeutung, des Hungers und des Krieges zurück in unterscheidbare Subjekte, Menschen mit einer eigenen Aura, einer eigenen Geschichte, die sich in ihren Gesichtern, in ihren Gesten spiegelt - in einer brasilianischen Goldmine ebenso wie in der Sahelzone, in der eine Hungersnot herrscht, oder bei den Flüchtlingen vor dem blindwütigen Völkermord in Ruanda.

Salgados große Fotozyklen haben etwas Apokalyptisches: »Migrations« von 2000 oder auch »Africa« von 2007. Er reist mit der Kamera durch Bürgerkriegsgebiete, dem Krieg folgen Flüchtlingsströme, Hunger und Seuchen. Er fotografiert Gestorbene, betrauerte einzelne Tote und ganze Leichenberge, die mit Bulldozern ins Massengrab geschoben werden. Es sind schwer erträgliche Ansichten unserer Welt, die sich in manchen Gegenden kaum vom europäischen Ur-Trauma, dem des Dreißigjährigen Krieges, unterscheiden.

Während der Arbeit an diesen Zyklen ging des dem Fotografen immer schlechter, er wusste nicht, wie lange er das schreckliche Bild unserer Welt, das er mit seiner Kamera einfing, noch ertragen könne. Aus dieser depressiven Zeit rührt die Bekanntschaft mit Wim Wenders, der in seinen Filmen ebenfalls immer auf der Suche nach etwas Ursprünglichem ist, gleich ob in »Der Himmel über Berlin« (1987), dem »Buena Vista Social Club« (1998) oder »Kathedralen der Kultur« (2014). Dieser Regisseur ist ständig auf der Suche nach dem Bild, dem stehenden oder bewegten, das fasziniert. Darum sind seine Filme vorsätzlich artifiziell, oft in Schwarz-Weiß oder neuerdings auch in 3D.

Seine Vorstellung vom Bild ist der von Sebastião Salgado verwandt: Nur über den Umweg des ästhetischer Überhöhung kommt man dem Geheimnis des Natürlichen nahe. Gibt es eine »Ästhetik des Schreckens«, wird das Leid auf diesen Bildern zu etwas geradezu Schönem überhöht? Wim Wenders, mit dieser Frage konfrontiert, antwortet: »Ich stimme dieser Kritik absolut nicht zu. Wenn man Armut und Leid fotografiert, hat man eine bestimmte Verantwortung gegenüber seinen Protagonisten. Man darf vor allem nicht zum Voyeur werden. Das ist nicht einfach. Das kann man nur erreichen, wenn man eine enge Beziehung mit den Menschen vor der Kamera aufbaut, wenn man tief in ihr Leben und ihre Situation eintaucht. Nur wenige Fotografen nehmen sich dafür Zeit.« Salgado arbeitete jahrelang an seinen großen Zyklen, lebte sich ebenso langsam wie gründlich in jene Bilderwelten ein, die für die Menschen, die er fotografierte, das alltägliche Leben sind. Oft genug war es der Ausnahmezustand.

Seit einigen Jahren jedoch arbeitet Salgado an einem neuen Projekt, in dem er all die negativen Geschichten der Menschen gleichsam in eine höhere, zugleich frühere und einfachere Form zu verwandeln versucht: »Genesis«. Dieses Projekt geht von der Tatsache aus, dass die Hälfte der Erde immer noch unberührter Raum ist, mit einer eigenen Zeitrechnung: Meere, Wüsten, Urwälder. Sämtlich von der Zerstörung bedroht, sehen sie hier und jetzt oft noch wie vor Millionen Jahren aus. Wir begegnen Eisbären im Norden, Alligatoren im Süden, stehen vor weitem Horizont und fallen in enge Schluchten, unter Wolken, die sich türmen - es ist das Bild der Welt, bevor der Mensch auftrat, vor allem bevor die industrielle Verwüstung begann; ein trügerischer Fortschritt.

Salgado sucht nach dem Pathos in der Natur. Pathos, das ist jener Ausdruck, wie er aus erfahrenem Schmerz erwächst: eine Steigerung des Ausdrucks, die ihren Preis hat. Der verlorene Anfang jedoch hat im Kunstwerk, das selbst einen Anfang macht, der die Schöpfung im Kleinen wiederholt, immer ein über die Grenzen dieses Kunstwerks hinausgehendes Ziel.

Und nicht nur nebenbei ist »Das Salz der Erde« auch eine Vater-Sohn-Geschichte. Der vierzigjährige Juliano Ribeiro Salgado als Co-Regisseur versucht auf dieser Reise, eine eigene Perspektive auf den Vater zu gewinnen. Während Wenders seine Passagen in Schwarz-Weiß dreht (den Fotos Sebastião Salgados verwandt) dreht der Sohn sehr bewusst in Farbe. Das will wohl sagen: Es gibt kein Dogma, nicht nur einen einzigen Weg zwischen Apokalypse und Genesis zur Neuschöpfung der Welt, die immer im eigenen Kopf beginnt.

Doch, es existieren Fortsetzungen, auch wenn diese nicht ohne Bruch sein können. Nur wer den Mut zur eigenen Sprache hat, kann etwas sagen, das ganz ihm gehört und so vielleicht für andere wichtig wird. Auch das gehört zum »Salz der Erde«.

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