Die Sonne ist Gott

Im Kino: »Mr. Turner - Meister des Lichts« von Mike Leigh

  • Marion Pietrzok
  • Lesedauer: 5 Min.

Energisch stapft er voran, die Unterlippe vorgeschoben wie im Trotz, die Augen scharf beobachtend zusammengekniffen. Dieser Landschaft, und dann, als er stehenbleibt, genau diesem Anblick hatte er entgegengeahnt. Der Maler fixiert ihn in seinem Skizzenbuch. Anders als seine Künstlerkollegen, die bislang den Ton angeben, ist er ständig auf Motivsuche im Freien. Wie ein Getriebener. Das geht so weit, dass er sich einmal, auf hoher See, gar an einen Schiffsmast binden lässt. Nächtliches Gewitter, Schneeregen, wahnsinnig, der Sturm, peitscht Wellen ins Schiff, reißt an Mast und Mann. Der Maler muss das alles sehen, selbst erleben, um es dann auf seinen Bilden wiederzugeben. Furios, einzigartig. Revolution in der Malerei. - Momente aus dem Leben von Joseph Mallord William Turner (1775-1851).

Timothy Spall, in der Maske des großen britischen Malers wahrhaftig keine Schönheit, was das Äußere betrifft - drahtig-borstige Augenbrauen, irisch-rötlich wie das Kopfhaar, und statt Taille straffe Tonne - macht, dass man den schönsten Eindruck von der Physis des Genies hat. Es gibt ein einziges Selbstporträt in Öl. Es zeigt Turner als jungen Mann. Mit ein bisschen Fantasie kann man sich vorstellen, dass er im Alter und im Altern so aussah wie eben jetzt Spall im Film. Doch das ist nebensächlich. Vielmehr interessiert, wie Turner ist. Einfacher Herkunft, aber liebevoll umhegt, als Charakter widersprüchlich, konsequent eigenwillig, weil intelligent und hochsensibel, verletzlich wie verletzend, getrieben von seinem inneren Auftrag als Künstler und hier besessen davon, herauszufinden, was Malerei, was Kunst kann, zumal als Seismograph in einer Zeit großer Umbrüche. Aber auch missverstanden und geschmäht.

Mike Leigh, der in seinen Filmen stets nah an konkreter sozialer Wirklichkeit war (»unerbittlicher Poet der britischen Arbeiterklasse«, »Rolling Stone«), hat im Wechsel zu einer Künstlerbiografie aus dem frühen 19. Jahrhundert zwar das Genre, nicht aber sein Thema gewechselt. Und es in überwältigende Bilder gekleidet. Die außerordentliche Intensität des Eindrucks, die Turners Bilder machen - die Farbigkeit, das Lichtflirren und die darin aufgehobene Atmosphäre und Stimmung -, ist ins Kinobild übersetzt. Nicht nur, dass die Filmbilder von Turner-Licht durchstrahlt sind und die auf dem Gemälde nicht bloß festgehaltene, sondern agierende Bewegung in die filmische übersetzt ist. Denn wie Tuners malerische Experimente der Bewegung und vor allem dem Licht galten, so sind Bewegung und Licht des Kinos elementare Substanzen. Leigh und sein Kameramann Dick Pope, aber auch die Darsteller, allen voran der grandiose Timothy Spall, und die ganze Crew, haben mit ihnen gezaubert, ein Meisterwerk geschaffen. - Es ist dies ein Film wie ein gutes Gemälde: Es gibt nicht oder nicht nur ein Abbild dessen, was augenscheinlich vor einem liegt, sondern macht den Unterstrom menschlicher, gesellschaftlicher Probleme erfahrbar.

Turner malte Fanale gegen die soziale Misere, gab einem Weltgefühl Ausdruck, einer Welt in Aufruhr, einer Welt sozialer Umbrüche. So sehr er in all seiner Außergewöhnlichkeit des künstlerischen Strebens erscheint, ist die Frage überhaupt allen Strebens angeschnitten. Und so sehr die Elendigkeit seiner Biografie zutage tritt, ist ebenso die Normalität des Geschunden- und Geworfenseins der menschlichen Kreatur aufgezeigt. So ist das Leben: simpel, dramatisch. Die historische Figur ist zu begreifen als eine gegenwärtige: Die Gesellschaft befand sich schließlich an der Schwelle zur industriellen Revolution - der Qualm von Motorschiff und Dampflok legt sich derart über Meer und Landschaft, dass man selbst als Zuschauer kaum atmen kann. Turner ist am Lebensende gar mit dem Aufkommen einer neuen Technik zur Widerspiegelung der Realität konfrontiert, der Daguerreotypie - eine seelenlose, die, so steht zu befürchten, den sich redlich Schindenden einst arbeitslos macht.

Damit ist, sehr subtil, der heutige Zustand der Welt angesprochen: ein Sklavenschiff, aus dem heraus das Blut ins Meer fließt, und die Arroganz der Reichen, es nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen - wer sind heute die Sklaven? Was passiert im gutsituierten Europa und vor seinen Toren? Der Umweltfrevel, dessen existenzvernichtender Ausgang unübersehbar ist. Die digitale Revolution, die Werte verrückt, Menschsein infrage stellt. All das scheint auf.

Leigh erzählt episodenhaft aus den letzten 25 Lebensjahren des Künstlers, dessen letzte Worte lauteten: Die Sonne ist Gott. An Detailgenauigkeit in der Wiedergabe des Zeitgeists bis hin zur historischen Ausstattung ist kein Mangel. Alles mit einer Leichtigkeit dargeboten, dass nichts fremd wirkt und sofort den Betrachter in den Bann zieht. Der Film ist von einer Vielschichtigkeit allgemeingültiger Aussagen, die wohl erst im Nachhinein, nachdem man den Kinosaal verlassen hat, in einzelne Gedanken aufzulösen ist. So geht es um das Geheimnis der Kreativität, um die melancholische Kraft, in der im Alter die Erfahrungen zusammengeballt sind und in nie geahnter Weise die Dinge durchschaubar werden lässt. Es geht um die Einsamkeit des Intellektuellen mit seinem Wissen um die Zeit. Es geht um die Liebe - verschmähte, verratene, verlorene, späte und die des Sohnes zum Vater. Es geht um das Alleinsein im Alter, wenn sich zu Gebrechlichkeit geistige Verwirrung gesellt, und um das Sterben, in all seiner Hässlichkeit. Es geht um die Rolle der Kunstkritik, der öffentlichen Meinung und um das Plädoyer dafür, unbeirrt seinen eigenen Weg zu gehen. Wie lauten da die Schlagwörter? Identität, Authentizität. Oder besser: Mike Leigh.

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