Für ein paar Rubel zur kaukasischen Riviera

Die einsame Schwarzmeer-Republik Abchasien will wieder Touristenmagnet werden

  • Lesedauer: 7 Min.

Die Hufe platschen durch tiefe Pfützen. Auf der langen und stark ramponierten Brücke über dem Fluss Ingur hat der Regen sich in großen Schlaglöchern gesammelt. Eine auf Siedlerart gespannte Schutzplane erstreckt sich über das Fuhrwerk mit den wenigen Fahrgästen. Der schweigsame Kutscher peitscht sein kleines Pferd, das den Wagen aus Georgien in Richtung abchasische Grenze zieht, mit stoischer Ruhe voran. Wie Charon, der Fährmann aus der griechischen Mythologie bugsiert er die Passagiere und ihr Gepäck für eine Handvoll Rubel ein paar Hundert Meter zwischen den Kontrollpunkten auf beiden Seiten des Niemandslandes hin und her. Von einem Ufer zum anderen.

Auf abchasischer Seite wird man in einer beklemmenden Atmosphäre empfangen. Massive Stacheldrahtumzäunung, Überwachungskameras und enorme Betonklötze. Die sind wie Warnschilder auf dem Fahrweg platziert. Eine Gruppe schwer bewaffneter russischer Soldaten empfangen uns. Ohne Begrüßung verlangen sie ein Visum für das umstrittene Gebiet.

Die jüngere Geschichte Abchasiens verlief dramatisch. Bis zur Unabhängigkeit im Jahr 1993 war das Land ein autonomer Teil Georgiens. Vorausgegangen war ein 14 Monate langer und verheerender Bürgerkrieg. Der trieb beinahe den gesamten georgischen Bevölkerungsteil der Region in die Flucht. Die Beziehungen zwischen beiden Seiten sind 21 Jahre später immer noch sehr gespannt.

Das ist auch der Grund für die unterschiedlichen Meinungen zur russischen Militärpräsenz mit 5000 Soldaten. Die Georgier haben - wie die Mehrheit der Weltgemeinschaft - nie die Unabhängigkeit Abchasiens anerkannt. Sie sehen die Russen als Besatzungsmacht. Die gelten in der abchasischen Wahrnehmung aber als Bewahrer des Friedens.

Nach der Passkontrolle steigen die Passagiere in ein älteres Modell eines Mercedes Kleinbusses, um in den südlichen Teil des Landes gefahren zu werden. Hier herrschte der Bürgerkrieg besonders brutal und mit verheerenden Folgen. Entlang der Landstraße erscheinen viele Häuser schemenhaft als rußige Ruinen. Nach etwa zwölf Kilometern kommt der Bus in der Stadt Gal an.

Ein paar Schritte von der Bushaltestelle entfernt, rückt eine fesselnde Giebelmalerei in das Blickfeld. Mit farbenfrohen Figuren erinnert sie an die nicht so ferne sowjetische Vergangenheit des Gebietes. Friedenstauben werden von Kosmonauten begleitet, schöne Menschen unterschiedlicher Nationalitäten haben Blumen in den Händen, fleißige Arbeiter unterschiedlicher Berufe gehen zielstrebig der Zukunft entgegen, voller Glauben an die Ideologie, auf der ihre Gesellschaft beruht. Aber die Farbe bröckelt und blättert ab. Backsteine und Beton erscheinen dahinter und werden Teil des Motivs.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein olivgrüner Jeep mit hoher Geschwindigkeit plötzlich um die Ecke biegt. Und es kommt vor, dass fünf bis sechs Militärs in Tarnuniformen herausspringen. Nervös, gestresst und mit Kalaschnikows über der Schultern. Sie sind sichtlich misstrauisch gegenüber westlichen Individuen, die auch noch direkt aus dem Land des Erbfeindes Georgien gekommen sind.

Im Revier des örtlichen Polizeichefs wird die Frage scharf gestellt: »Was haben Sie hier zu suchen?« Mit Proletariermütze und Spitzbart überwacht der Gründer des sowjetischen Sicherheitsdienstes, Feliks Dzierzynski, das Verhör. Er hängt umrahmt an der Wand hinter dem Schreibtisch. Dann ist der Vorgesetzte dran. »Was machen wir mit dem Ausländer?«

Strenge Wachsamkeit ist aber durchaus nicht unbegründet. Georgische Milizen waren vor kurzem in der Gegend aktiv und Besucher wie Touristen kommen gewöhnlich über Russland in den Norden Abchasiens. Schließlich darf die Reise weitergehen. 75 Kilometer die Küste entlang befindet sich die Hauptstadt Suchumi.

Hier ist die Atmosphäre entspannter. Mit seinen schwankenden Palmen und schneebedeckten Bergen war Abchasien für viele Jahre das bevorzugte Urlaubsparadies für Bürger der Sowjetunion. Zahlreiche Hotels und Sanatorien dieser Ära zeigen, dass der Kurort zu den beliebtesten Urlaubszielen von Kolchosbauern und Kombinatsarbeitern gehörte.

Heute sind viele der Gebäude in einem schlechten Zustand und stehen teilweise leer. Das erinnert an die Auflösung der Sowjetunion, den Bürgerkrieg und ein drittes aktuelles Problem Abchasiens: viele Jahre der internationalen Isolation und des Embargos. Denn als der Bürgerkrieg endete und Abchasien seine Unabhängigkeit erklärte, sprachen westliche Staatsoberhäupter aus geopolitischen Gründen Georgien ihre Unterstützung aus und untermauerten dessen territorialen Anspruch.

Wenn man neugierig ist und etwas über die wirren politischen Verhältnisse erfahren möchte, sich ein wenig mit den Hintergründen des Konflikts vertraut machen will, dann ist bereits die jüngste Geschichte Abchasiens für sich Anlass genug, durch das Land zu reisen. Menschen, die man trifft, und Eindrücke, die man gewinnt, helfen den westlichen Mythos über den Konflikt zu entschleiern. Der behauptete lange, dass fast ausschließlich die Abchasen für Gräueltaten im Bürgerkrieg verantwortlich gewesen seien und sie unter keinen Umständen ein Recht auf ihren eigenen Staat hätten.

Diese Haltung ist bequem für die NATO-Führung und stimmt mit ihrem Traum überein, ein Groß-Georgien als Mitglied in die Organisation aufzunehmen, um den Einfluss Russlands in der Region zu verringern. Diese Politik hatte jedoch verheerende Folgen für den Wiederaufbau Abchasiens. Sie traf die lebenswichtige Tourismusindustrie besonders hart. Ein Handelsembargo machte es für viele Jahre unmöglich, dass Hotels und andere Einrichtungen für Touristen wieder aufgebaut und verbessert werden konnten.

Eines der berühmtesten Sanatorien in Suchumi war ehemals dem Personal der Roten Armee vorbehalten. Durch den Park führt ein überwucherter Pfad hinunter zum Schwarzen Meer. Der Duft exotischer Vegetation dringt durch den subtropischen Nachmittag. Üppig bewachsen ist ein Mosaik mit dem Porträt Lenins. Zwischen weißen Säulen eines verfallenen Baus im Stile des sozialistischen Klassizismus erblickt man das ruhige Meer und fühlt sich wie ein erstaunter Archäologe, der sich durch den Schutt eines längst verlorenen Imperiums bewegt.

Der letzte Zug ist längst abgefahren, aber die Eisenbahnbrücken stehen noch auf breiten dorischen Säulen. Diese besondere Architektur der 1930er, 40er und 50er Jahre ist in Abchasien weit verbreitet. An der weiten Promenade an der Küste schwanken Palmen in einer leichten Brise. Die Bucht erstreckt sich zu jeder Seite Suchumis und umarmt das türkisfarbene Meer.

Hier sind so gut wie keine Besucher aus dem Westen. Mehrere Russen haben sich am Steinstrand niedergelassen. Langsam blüht der Tourismus wieder auf. Viel fröhliches Geschrei, Jubel, Spaß und Spielereien. Kinder springen von verfallenen Betonteilen ins Wasser.

Unweit dessen erläutert Außenminister Wjatscheslaw Tschirikba die abchasische Entwicklung. Trotz der prekären Lage des Landes, die eine Konsequenz der fehlenden Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft sei, bleibe er Optimist. »Wir sind glücklich. Wir sind frei. Wir sind unabhängig. Wir schreiten der Zukunft voller Hoffnung entgegen. Die nächsten fünf Jahre werden zeigen, ob unser Land endlich wieder richtig auf die Beine kommen wird.« Abchasien habe das Potential, sehr reich zu werden. »Letztes Jahr hatten wir zwei Millionen Touristen, und wir könnten noch mehr empfangen. Es gibt viele Möglichkeiten, den Tourismus zu entwickeln und zu erweitern.«

Als eines der wenigen Länder, die die Unabhängigkeit Abchasiens anerkannt haben, spielt der Nachbar Russland in diesem Prozess eine bedeutende Rolle. Der Außenminister beurteilt Russlands wachsenden Einfluss als eindeutig positiv. Die Einheimischen sprechen Russisch, zahlen mit russischem Rubel und viele haben schon russische Reisepässe. Die verbesserten Beziehungen zwischen den beiden Ländern seit dem russisch-georgischen Krieg im August 2008 ebneten den Weg für massive Investitionen und wirtschaftliche Hilfe vom großen Nachbarn im Norden.

Von Sotschi, der Gastgeberstadt der Olympischen Winterspiele 2014, die auch einer der Austragungsorte für die in Russland stattfindende Fußball-Weltmeisterschaft im Jahre 2018 sein wird, sind es nur wenige Kilometer bis zur abchasische Grenze. Diese Großereignisse haben auch den russischen Blick wieder auf diesen Teil des Kaukasus gelenkt und zu wachsendem Interesse an der Entwicklung von Infrastruktur und Anlagen für die Athleten, Publikum und Touristen beigetragen. Abchasien beteiligt sich mit Arbeitskräften und Baumaterialien.

Es laufen russische Projekte, um die Straßen und Bahnlinien zu verbessern und Hotelkapazitäten zu erweitern. Gebaut wird vor allem an der Küste nördlich von Suchumi, wo Städte wie Pitsunda und Gagra ungeheuer populär sind. Sie bilden eine regelrechte Riviera. In dieser Gegend machte Generalsekretär Nikita Chruschtschow im Oktober 1964 Urlaub, als er durch einen Putsch gestürzt wurde. Der ebnete Leonid Breschnew den Weg zur Macht in der Sowjetunion.

Einige der schönsten Landschaften Europas finden sich hier. An der Küste laden viele Strände entlang der Landstraße ein. Auf der rechten Seite beginnt die Gebirgskette Großer Kaukasus, mit dem höchster Gipfel von 5642 Metern. Sie bildet die russisch-georgische Grenze, umschließt Aserbaidschan und endet schließlich im Kaspischen Meer. Weiße Gletscher rutschen von den zackigen dunkelblauen Silhouetten hinunter und schaffen ein unvergleichliches Panorama.

An einem frühen Abend geht die Fahrt durch Haarnadelkurven und enge Schluchten in den Höhen außerhalb Suchumis weiter. Am Wegesrand erinnern Porträts junger Männer auf Gedenkplatten an die vielen Gefallenen der Kämpfe des Sommers und Frühherbstes des Jahres 1993.

Fotos: Jens Malling

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