Einheitsgrau, schau

  • Andreas Gläser
  • Lesedauer: 3 Min.

Herrlich grauer Herbst, mit und ohne Nieselregen. Da jagt man nur einen Hund auf die Straße, nämlich sich selbst.

Ich absolviere meine drei Runden im Park nun lieber als im Frühling oder Sommer. Das Wetter ist stabil, die Selbstmordrate auch; die Sonne kommt genauso wenig raus wie mein Künstlerkollege und die Nachbarinnen. Novemberidylle mit aufgeweichten Parkwegen, auf denen es sich wie über mit morscher Rinde beschichteten Pfaden wandeln lässt. Ich laufe nahezu alleine, ohne einen Mann an meiner Seite, auch ohne zwei Frauen; ich muss nicht quatschen, bekomme nichts zu hören.

Mein dicker Kumpel sieht in mir einen fitten Dynamosportler alter Schule, bloß weil ich meinen Atmungs- und Bewegungsapparat halbwegs zu koordinieren verstehe. Er bleibt seit Wochen in seiner warmen Stube, und ich laufe nicht Gefahr, bei ihm meine restlichen Erste-Hilfe-Kenntnisse anwenden zu müssen.

Auch meine Nachbarinnen nehmen nicht mehr am Dauerlaufzirkus teil. Sie sitzen nahezu regungslos vor der Glotze und sehen dem Wetterfuzzi vor dessen Grafik verharren. Selbst er gestikuliert nur noch wie ein verschlafener Finne, während er verrät: »Kaum eine Windströmung, geschlossene Wolkendecke. Jeweils 7 Grad Celsius in Finowfurt, Falkensee und Friedrichshain. Stabile Tristesse.«

Einheitsgrau, schau. Das ist ein Mann, ein Fernsehonkel, der nimmt sie, anders als ich, auch mal mit zum Fußball. Ich will keine Frau mit ins Stadion nehmen, rede mich lieber heraus: »Frau, das ist zu teuer und niveaulos, und die Termine verschieben sich mitunter; ich weiß gar nicht, wann das nächste Spiel steigt. Nein, das ist doch nichts für dich! Fußball ist Freiheit, hat Bob Marley gesagt. Frau, bleib zu Hause, höre Reggae.«

Speziell der Dauerlauf ist für mich ein Solosport, eine halböffentliche Selbstbefriedigung. Das schlechte Wetter hat die Vorteile, dass es mir den Großteil der trotteligen Trendjogger vom Leibe hält und es hell ist. Auf die Spezialisierung des Dauerlaufs bei Dunkelheit, die ich einst probierte, habe ich keinen Bock mehr, da ich im Park plötzlich einen Ast im Gesicht oder einen Fuß in der Mördergrube haben könnte.

Jawoll, es gibt viele Spezialisierte unter den Läufern, zum Beispiel die mit einem Kinderwagen. Diesen Trend habe ich versäumt, da wir im Jahr der Doppelturmzerstörung mit unserem Baby in der Wilhelm-Pieck-Straße wohnten und uns mit dem Tanzen begnügten.

Heutzutage laufe ich am liebsten vor mich her, wie Forest Gump durch die USA, jenseits des olympischen Gedankens. Ich will nur drahtig bleiben, notfalls zum Bus spurten können, ohne vor dem Driver zusammenzubrechen; ich möchte nur im Park einige 20 Jahre jüngere Fräuleins überholen, ohne dass meine Atmung geradezu schreit.

Welch Wetter: 7 Grad Celsius, gestern, heute, morgen. Für Leute, denen unser Nieselland nicht gefällt, wurde eine südliche Erdhalbkugel erfunden.

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