Mysterien aufklären

Patrick Modiano

  • Lesedauer: 2 Min.

Der diesjährige Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano hat in seiner Nobelrede am Sonntag über seine Scheu vor öffentlichen Auftritten gesprochen. »Dies ist das erste Mal, dass ich eine Rede vor einem so großen Publikum halten muss, und ich bin etwas besorgt darüber«, sagte der französische Schriftsteller (»Gräser der Nacht«), der für seine Zurückhaltung bekannt ist, in Stockholm.

Schriftsteller hätten ein schwieriges Verhältnis zur Rede, auch weil sie es gewohnt seien, Textpassagen zu streichen. »Ich gehöre außerdem zu einer Generation, in der die Kinder gesehen und nicht gehört wurden, außer zu seltenen Gelegenheiten, und nur, nachdem sie um Erlaubnis gefragt hatten.«

Die Vergabe des Nobelpreises an ihn nannte der 69-Jährige irreal. In der traditionellen Vorlesung sprach der Autor drei Tage vor der feierlichen Verleihung des Preises auch über seine Kindheit im Paris der Nachkriegszeit, das er einen »seltsamen Ort« nennt. »Dieses Paris hat nie aufgehört, mich zu verfolgen, und meine Bücher sind manchmal in sein verschleiertes Licht getaucht.«

Während seiner Kindheit sei er für gewöhnlich getrennt von seinen Eltern gewesen, habe bei Freunden übernachtet, in einer Reihe von Orten und Häusern. »Ein Kind überrascht nichts, und selbst bizarre Situationen scheinen vollkommen normal.«

Als Erwachsener habe er jedoch versucht, dieses Rätsel zu lösen und sich auf die Suche nach den früheren Weggefährten gemacht. »Aber es ist mir nicht gelungen, alle Menschen und Orte und alle Häuser der Vergangenheit (...) ausfindig zu machen«, erzählte Modiano.

»Dieser Antrieb, Rätsel ohne wirklichen Erfolg zu lösen und zu versuchen, ein Mysterium aufzuklären, hat mir die Sehnsucht nach dem Schreiben gegeben, als ob das Schreiben und die Vorstellungskraft mir endlich helfen könnten, alle losen Enden zu verknüpfen.« Es sei die Aufgabe eines Schriftstellers, das Mysteriöse aufzudecken, sagte Modiano. »Er ist auch ein Seismograph, der bereitsteht, um kaum spürbare Bewegungen aufzunehmen.«

Die Schwedische Akademie, die den Literaturnobelpreis vergibt, hatte den Franzosen für seine »Kunst der Erinnerung« geehrt. »1945 geboren zu sein, nachdem Städte zerstört und ganze Bevölkerungen verschwunden waren, muss mich, wie andere meines Alters, sensibler für die Themen Erinnerung und Vergessen gemacht haben«, sagte Modiano am Sonntag. dpa

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