Demokratie lernen in den Favelas

Die Grupo AdoleScER bringt Kindern und Jugendlichen in Recife politische Zusammenhänge näher

  • Christina Schug, Recife
  • Lesedauer: 5 Min.
In Brasilien herrscht Wahlpflicht. Das allein sichert aber noch längst keine demokratische Willensbildung. Die Grupo AdoleScER führt Workshops durch, um demokratisches Verhalten einzuüben.

Brasilien wählt alle vier Jahre sein Staatsoberhaupt, seit das Land die Diktatur (1964-85) hinter sich gelassen hat. 2014 war nicht nur das Jahr der Fußballweltmeisterschaft sondern auch das Jahr vieler Wahlen in dem größten lateinamerikanische Land. Denn nicht nur die Präsidentschaft stand zur Disposition, auch die Posten vieler Politiker auf Staats- und Landesebene standen zur Wahl. Eine Besonderheit des brasilianischen Systems ist die Wahlpflicht. Damit soll gesichert werden, dass alle Bürger ihrer Verantwortung für das Gemeinwesen nachkommen. Nur wer sich dessen bewusst ist und sich im Politikdschungel Brasiliens auskennt, kann sich auch richtig entscheiden, findet die Organisation Grupo AdoleScER. Ein guter Grund, das Thema Wahlen in das aktuelle Bildungsprogramm aufzunehmen.

Die Wahlprozesse in Brasilien sind zwar an sich als technisch sicher und effizient bekannt. Infrage steht hingegen die Art und Weise, wie zu vergebende Ämter besetzt werden und was die Politiker machen, wenn sie an den Schalthebeln und den Fleischtöpfen sitzen. Die Wahlkampagnen kosten Millionen. Das Geld stammt von großen Firmen, die dafür bevorzugt Verträge mit dem Staat bekommen. Brasilianische Politiker sind sehr oft in Korruptionsskandale verwickelt und dafür bekannt, sich zu bereichern. Sie haben einen hohen Lebensstandard und viele Privilegien.

»Das brasilianische Wahlsystem ist so komplex und die ganze Wahlwerbung so von Korruption und der Meinungsmache parteiischer Medien bestimmt, dass es für alle BrasilianerInnen sehr schwer ist zu entscheiden, wem sie ihre Stimme geben«, erklärt ein Vertreter von AdoleScER, »besonders für die arme Bevölkerung in den Favelas, in denen wir arbeiten«. Demokratie und ein Bewusstsein für die Bedeutung der Wahlentscheidung sind weitgehend unbekannt. In den Armenvierteln, in denen AdoleScER arbeitet, bestimmt das Fernsehen die Meinungsbildung. Die Berichterstattung ist allerdings weder tiefgründig noch unabhängig. Und die Schulen schweigen das Thema tot.

Darum hat sich AdoleScER entschieden, mit den Jugendlichen des Projekts »PazAMIN - Für eine Gemeinde ohne Gewalt« demokratisches Verhalten einzuüben. Dieses Projekt wird vom Weltfriedensdienst unterstützt und spricht Jugendliche von 11 bis 15 Jahren an. »Die Jugendlichen dürfen zwar heute noch nicht selbst wählen. Aber sie beeinflussen die Meinungsbildung in ihren Gemeinden und den Schulen. Deshalb wollen wir sie jetzt schon anregen, sich mit dem Thema Wahlen zu beschäftigen! Das nennt sich Peer-Education und ist das Herzstück unserer Arbeit«, so Projektkoordinatorin Daniela Araújo.

Zunächst hat Grupo AdoleScER dem gesamten pädagogischen Team und vier Jugendgruppen verschiedener Gemeinden das Thema in einem Workshop näher gebracht. Interaktive Methoden, kurze Filmclips und Diskussionsrunden vertieften das Wissen über das brasilianische Wahlsystem. Die Jugendlichen haben dann die Wahlen simuliert: Zwei Kandidaten hatten die Aufgabe: »Stell dir vor, du würdest als Präsident zur Wahl stehen - wie würde dein Wahlprogramm aussehen, um möglichst viele der Bürger dazu zu bringen, dich zu wählen?« Und die anderen überlegten, was würden sie als aktive Bürger von den Politikern fordern und vor allem: Wie stellen sie sicher, dass das Versprochene auch in den Gemeinden umgesetzt wird?

Dieser Workshop bietet einen guten Einblick in die Methoden der Organisation Grupo AdoleScER: Engagierte, aber aufgrund ihrer Herkunft benachteiligte Jugendliche mit Führungspersönlichkeit bekommen eine Ausbildung, um andere Jugendliche positiv zu beeinflussen. Sie sollen dieses Wissen nutzen, um die Gewalt in ihrem Umfeld zu mindern. Gewalt kommt von Benachteiligung, Unwissen, Vernachlässigung, Armut und Verzweiflung über die schlechten Lebensbedingungen. Deshalb ist auch ein wesentliches Ziel, die Lebensbedingungen zu verbessern, zum Beispiel durch Bildung. Dann haben die Jugendlichen das Potenzial, aus diesem Teufelskreis auszubrechen.

Die Schüler, die an dem Workshop teilgenommen hatten, wurden angeregt, auch an ihrer Schule eine Aktion zur Demokratieförderung durchzuführen. Eine Jugendgruppe aus dem Projektstandort Santa Luzia hat dies dann umgesetzt. »Das war eine besondere Herausforderung, da die meisten Jugendlichen den Sinn nicht verstehen«, berichtete Valquíria Conceição, Gruppenleiterin in Santa Luzia. »Besonders die älteren Schüler glauben schon nicht mehr an einer Verbesserung der politischen Situation des Landes. Es lohnt sich nicht einmal, darüber nachzudenken. Manchmal wissen die Leute drei Tage nach der Wahl nicht mehr, wen sie gewählt haben«, erklärt Aline Alves, jugendliche Fachkraft von AdoleScER, »oder die Kandidaten versprechen ganzen Gemeinden irgendeine Verbesserung, die aber selten eintrifft - und niemand fordert dafür Rechenschaft.«

Um zu erreichen, dass an der Schule über Wahlen nachgedacht wird, wählten die Schüler den Weg der Kreativität und Interaktion. So konnten sie ein nationales Thema in den Alltag der Schule einbetten. Wie im Workshop haben die Jugendlichen sich Kampagnen ausgedacht, um sich von den Schülern als Präsident wählen zu lassen. Es gab zwei Kandidaten zur Auswahl, die mit ihrem Wahlprogramm auf die Verbesserung der Schule gesetzt haben. Sie selbst entwickelten ihre Themen, ihre Strategien, haben sich Verbündete gesucht, Plakate erstellt und mit lauter Stimme für ihre Wahl geworben. Auf dem Programm standen drahtloses Internet, besseres Essen, mehr Sicherheit, bessere Lehrer und vieles mehr. Viele neugierige Schüler konnten sie so an die Urne locken. »Ich werde für Rodrigo wählen, weil er sich für drahtloses Internet einsetzt. Ich glaube dadurch haben wir mehr Zugang zu Wissen und unsere Bildung verbessert sich«, meinte ein begeisterter Schüler, bevor er seinen Wahlzettel in die Pappschachtel warf, die als Wahlurne diente. Die Diskussion war hitzig und die Schulleitung war begeistert von der Aktion. Wer dann wirklich gewonnen hat, spielte in diesem Fall keine Rolle mehr. Wichtig ist die Reflexion, warum die Jugendlichen, auch wenn sie noch zu jung zum Wählen sind, sich trotzdem schon damit beschäftigen sollten: Zuhören, was Politiker sagen und über deren Vorschläge nachdenken.

Damit hat AdoleScER hoffentlich einen Denkprozess angestoßen. Denn wenn auch nicht dieses Mal, so doch in zwei oder vier Jahren, werden sie an die Urne treten und hoffentlich »bewusst« wählen. Aline Alves ist überzeugt: »Die Wahl an sich garantiert noch keine Demokratie - sondern erst Bewusstsein und aktives Handeln aller, verknüpft mit politischem Bewusstsein und Entscheidungen, die von allen gemeinsam getroffen werden«.

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