Erotik für den Alltag

Wolfgang Schmidbauer über die Voraussetzungen einer erfüllten Partnerschaft.

  • Von Martin Koch
  • Lesedauer: 6 Min.

Gewöhnlich beginnen Liebesbeziehungen mit einem nicht anders als rauschhaft zu nennenden Glücksgefühl. Man hat, wie der Volksmund sagt, Schmetterlinge im Bauch. Von früh bis spät und selbst dann, wenn wir es gar nicht wollen, ist unser Kopf voll von Gedanken an die geliebte Person, die dabei häufig über alle Maßen idealisiert wird. Im Zustand des Verliebtseins neigen viele deshalb dazu, ihre Gefühle für den Partner bzw. die Partnerin für unauslöschlich zu halten.

In einer solchen frühen Phase der Beziehung gilt vor allem das gegenseitige sexuelle Erleben als Gradmesser für die Qualität der Liebe. Noch machen die meisten keinen Unterschied zwischen Sexualität und Erotik, zwischen Begehren und Zärtlichkeit. Beides ist für sie untrennbar verbunden. Das ändert sich erfahrungsgemäß im Laufe der Zeit. Sexuelles Verlangen und erotisches Bemühen driften bei vielen Paaren immer weiter auseinander. Wenn diese schließlich auf eine Trennung zusteuern, heißt es schlicht: Wir haben uns auseinandergelebt. Damit werden die Ursachen der Beziehungskrise in eine gleichsam anonyme Sphäre verlagert. Die Rede vom Auseinanderleben entlastet mithin beide Seiten, denn sie »spielt an auf einen Prozess, für den keiner der Beteiligten verantwortlich ist«, sagt der Münchner Psychoanalytiker und Paartherapeut Wolfgang Schmidbauer, dessen vierwöchentlich erscheinende Kolumne »Zur Seele« den nd-Lesern wohlbekannt sein dürfte.

In seinem neuen Buch »Das Rätsel der Erotik« legt Schmidbauer mit großer Sachkenntnis und viel Einfühlung dar, wie man das in langjährigen Beziehungen erloschene erotische Feuer wieder entfachen kann. »Gelingt das nicht«, so der Autor, »droht der Rückzug in Spaltungsprozesse, in denen das Schwinden und Scheitern der sexuellen Begegnung dem Gegenüber zugeschrieben wird.« Damit ist nicht selten der letzte Grund für eine Trennung gegeben.

Es fällt auf, dass Menschen oft ein Verständnis von Sexualität und Erotik entwickeln, das ihrer eigenen Situation nicht angemessen ist. Denn in unserer von medialen Bildern überfluteten Gesellschaft sind es vornehmlich junge, attraktive Frauen und durchtrainierte Männer, die sich in sexuell anzüglichen Posen präsentieren. Viele, die glauben, diesen Idealen nicht zu genügen, schämen sich daher für ihren Körper und vermeiden es, im erotischen Raum allzu frei und ungezwungen zu agieren. Manche verzichten gleich ganz auf eine sexuelle Betätigung. Andere wiederum stellen sich der Konkurrenz und hoffen, durch kosmetische Operationen wieder ein halbwegs jugendliches Aussehen zu erlangen. Die Ergebnisse sind jedoch häufig enttäuschend, wie Schmidbauer treffend feststellt: »Wir altern ganzheitlich. Wer Details verbessert, macht andere, nicht veränderte Einzelheiten doppelt auffällig.«

Älteren Menschen wird daher gern empfohlen, sich in sexuellen Dingen erst gar nicht mit Jüngeren zu messen. Viele tun es trotzdem und sind danach frustriert über die Reaktionen ihrer Umwelt. Denn in großen Teilen unserer Gesellschaft dominiert nach wie vor die Auffassung, dass das Alter im Grunde ein »behandlungsbedürftiger« Zustand sei und für sexuelle Abenteuer nicht tauge.

Psychologen sprechen hier von einem Defizitmodell des Menschen, in dem der natürliche Alterungsprozess allein unter dem Aspekt des Mangels, des Leistungsabfalls und der Hilfebedürftigkeit beschrieben wird. Dagegen wendet sich Schmidbauer entschieden. Er sieht im Alter auch eine Chance für Menschen, neue und reife Formen des Liebeslebens zu entwickeln, bei denen nicht die Lust, sondern die Bindung im Vordergrund steht: »Das Interesse an einer sexuellen Befriedigung tritt gegenüber dem Interesse an einer beziehungsorientierten Erotik zurück.« Das heißt, es wird nicht mehr nach Leistung geliebt. Weder muss ein Mann nach dem Sexualakt besorgt fragen: »War ich gut?«, noch sind Frauen aus Gründen der intimen Höflichkeit genötigt, einen Orgasmus vorzutäuschen.

Im Gegensatz dazu steht bei einer leistungsorientierten Sexualität das Gelingen an erster Stelle. Die »besten Noten« gibt es dabei für Paare, die es schaffen, die sexuelle Vereinigung mit einem nahezu synchronen Erleben eines Orgasmus zu krönen. Bereits in den 1920er Jahren waren Sexualreformer wie Hendrik van de Velde und Wilhelm Reich bemüht, solche Praktiken technisch zu vervollkommnen. Reich ging sogar soweit, zwischen einer gehemmten Sexualität und diversen Krankheiten, darunter Krebs, eine Kausalität herzustellen.

Vorstellungen dieser Art wirken bis heute nach. Und sie erschweren es vielen Paaren, eine, wie Schmidbauer sagt, »alltagstaugliche Erotik« zu entwickeln, für die es natürlich noch andere Hindernisse gibt: der gemeinsame Haushalt, Kinder, die Belastung durch Arbeit, erotische Konkurrenten. Dass der sinnliche Reiz des Fremden gelegentlich in einen Seitensprung mündet, ist dabei nicht immer ein Malheur. Sondern auch eine Gelegenheit, die Beziehung neu zu beleben, meint Schmidbauer. Unter der Voraussetzung natürlich, dass die Liebe des Paares durch den Seitensprung nicht allzu sehr beschädigt wurde.

Die meisten Menschen bemerken zuerst an einer gestörten Erotik, dass auch ihre Beziehung gestört ist. Die wahren Ursachen für die zunehmende Entfremdung in einer Partnerschaft liegen jedoch häufig woanders. Es sind namentlich die absichtlich oder achtlos geäußerten Kränkungen, die Menschen tief und nachhaltig verletzen. Denn anders als eine ungeschickte Geste oder ein vergessener Hochzeitstag lassen Worte in der Regel weniger Spielraum für eine wohlwollende Deutung. Beispiele hierfür kennt jeder: »Liebling, wenn du nicht etwas mehr auf deine Figur achtest, musst du dich nicht wundern, dass ich keine Lust auf Sex habe.« Oder: »Andere Männer sind beim Sex viel sensibler. Sie verstehen, dass Frauen vor allem Zärtlichkeit wollen.« Mögen solche Sätze auch im Affekt fallen, auf lange Sicht sind sie Gift für eine Beziehung. Eine oder zwei Kränkungen des Selbstwertgefühls lassen sich vielleicht noch verkraften. Doch wenn Kränkungen dauerhaft eine Beziehung prägen, gerät diese rasch in eine bedrohliche Schieflage.

»Alltagstaugliche Erotik setzt voraus«, so Schmidbauer, »dass der Partner als der wahrgenommen wird, der er ist.« Unter solchen Umständen fällt es auch leichter, eigene Schwächen zuzugeben, selbst für Menschen, die ein hohes soziales Prestige und damit oft ein sehr positives Bild von sich selbst haben. Kommt es dennoch zu Spannungen in einer Beziehung, sind beide Partner gefordert, sie abzubauen. Dass es hierbei von Vorteil sein kann, wie Schmidbauer meint, die Erotik zu ritualisieren, will ich gar nicht bestreiten. Denn durch erotische Rituale vermeidet man geschickt, dass in einer Beziehung die eine Seite die Bedürfnisse der anderen »vergisst«. Aus Erfahrung weiß ich aber auch: Rituale können leicht zur Routine werden. Statt eine Beziehung erotisch zu stabilisieren, tragen sie dann eher dazu bei, dass die Partner die Lust aufeinander verlieren.

Um sein Anliegen besser kenntlich zu machen, führt Schmidbauer zahlreiche Fallbeispiele an. Bei seinen Erklärungen jedoch wahrt er stets den scharfen Blick des Analytikers: »Lebenshilfe, die auf Rezepte hinausläuft, werden die Leserinnen und Leser in diesem Buch nicht finden.« Nun sind Rezepte gewiss das falsche Mittel, um das erschlaffte Liebesleben von Paaren neu zu beleben. Dennoch: Ein paar mehr praktische Ratschläge zur »Beziehungspflege« wären für den Leser vielleicht hilfreich gewesen, auch wenn Schmidbauer natürlich Recht hat mit seiner Bemerkung, dass jeder Mensch Lust und Bindung nur für sich selbst erfahren kann.

Wolfgang Schmidbauer: Das Rätsel der Erotik. Lust oder Bindung. Kreuz Verlag, 223 S., geb., 19,99 €.

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