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Die fünf Männer mit dem Megafon

»Kommt nach vorn!« Im Prozess gegen Tim H. lassen sich die Vorwürfe der Anklage immer weniger halten

  • Lesedauer: 3 Min.

Die Durchsage ist auf dem Polizeivideo deutlich zu hören: »Kommt nach vorn!«, schallt es aus einem Megafon, während Hunderte Nazigegner am 19. Februar 2011 auf eine Absperrung der Polizei zudrängen. Als die Menge nach heftigem Gerangel, bei dem Knaller und Holzlatten eingesetzt wurden, den Riegel überrennt, zeigt das Video einen großen Mann, der ein Megafon trägt. Tim H. ist ein hoch aufgeschossener Mensch. Deshalb sah es das Amtsgericht Dresden im Januar 2013 als erwiesen an, dass der heute 38-jährige Berliner die Menge dirigiert und sich so eines »besonders schweren Falls« von Landfriedensbruch schuldig gemacht habe. Zudem soll er einen Polizisten als »Nazischwein« beleidigt haben. Der Familienvater wurde zu 22 Monaten Haft verurteilt – ohne Bewährung.

Videoaufnahmen, die den Durchbruch zeigen, wurden am gestrigen zweiten Tag der Berufungsverhandlung am Dresdner Landgericht erneut vorgeführt – in zweifacher Form. Zunächst nahm sich das Gericht das Video vor, das Polizisten der nach dem 19. Februar in Dresden eingerichteten SOKO 19/2 angefertigt hatten. Es zeigt nur einen Mann mit Megafon – und lässt erkennen, dass dieser das Schimpfwort, anders als von der Anklage unterstellt, nicht in Richtung des Beamten mit der Kamera äußert. Vielmehr gilt es einem Polizisten, der zuvor mit einem Schlagstock auf einen gestrauchelten Demonstranten eingeprügelt hatte.

Danach begutachtete das Gericht eine zweite Fassung der Videoaufnahmen. Sie wurde von Tim H.s Verteidigern angefertigt und enthält Passagen, die im Polizeivideo fehlen. Mit hellen Kreisen unterlegt ist zunächst der bereits bekannte Megafonträger – danach allerdings noch ein zweiter, ein dritter und ein vierter. Als sich die Lage an der Straßensperre wieder etwas beruhigt hat, ist schließlich noch eine fünfte Person mit Megafon auszumachen. Die Durchsagen, mit denen die Menge angeblich koordiniert und aufgewiegelt wurde, hätten von jedem der Geräte kommen können. Selbst wenn der Hüne Tim H. gewesen sein sollte, was noch nicht zweifelsfrei geklärt ist: Als vermeintlicher Rädelsführer ist er wohl entlastet.

Offenkundig ist aus Sicht der Verteidigung, dass es sich nicht um ein Versehen der Beamten handelt, die das Filmmaterial bearbeiteten. Tims Anwalt Ulrich von Klinggräff warf den Polizisten vielmehr eine »ganz deutlich manipulative Arbeit« vor: Man habe »zielgerichtet« Passagen ausgewählt, die sich auf eine Person konzentrierten. Dieser Vorwurf wurde erhärtet durch die Aussagen des ehemaligen Vizechefs der SOKO 19/2. Er sagte, die Bildbearbeiter hätten ihm im Oktober 2014 mitgeteilt, auf dem Video vier bis fünf Personen mit Megafon erkannt zu haben. Warum diese entlastende Erkenntnis bei der Filmbearbeitung unter den Tisch fiel, soll am nächsten Prozesstag erörtert werden: Einer der Beamten ist für den 6. Januar als Zeuge geladen.

Ob er aussagt, ist allerdings offen. Er gehörte auch zu den Polizisten, die die Videobeweise für den Prozess gegen den Jenaer Jugendpfarrer Lothar König aufbereiteten. Auch dort war entlastendes Material vernachlässigt worden. Königs Verteidiger Johannes Eisenberg hatte von einer »Fälscherwerkstatt« gesprochen; später wurde Anzeige gegen die beteiligten Beamten gestellt. Das Verfahren läuft noch.

Im Prozess gegen Tim H. hält die Verteidigung eine erneute Verurteilung wegen Landfriedensbruchs für ausgeschlossen. Im Raum stehe allenfalls noch eine Beleidigung, sagt Klinggräff. Insgesamt bleibe von den harten Vorwürfen »nicht viel übrig«.

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