Mississippi hat den Blues

Dort unterwegs, wo König Johnson für die Musik seine Seele verkaufte und die Leute abwandern

  • Max Böhnel, New York
  • Lesedauer: 5 Min.
»Welcome to Mississippi, the Birthplace of America's Music«, heißt es auf dem Highway 61 südlich von Memphis. Hier beginnt das Mississippi-Delta, wo der »Ursprung der amerikanischen Musik« liegt.

Man muss kein Blues-Experte sein und sich nicht einmal besonders für Blues interessiert haben, um trotzdem eine Vorstellung zu haben von Mississippi. Dafür reicht ein Plattenspieler aus. »I’e got the Blues«, Baumwollfelder, der Whiskey-Teufel, tiefe Einsamkeit, die berühmten »Crossroads«, die einem die Entscheidung an der Wegkreuzung schwer machen, und andere Blueszeilen brennen sich seit Jahrzehnten ins Gedächtnis ein. Und erst Highway 61! Tausendfach besungen wurde die zweispurige Autobahn, die südlich verläuft.

Aber irgendwie lässt sich das Blues-Gefühl nicht so recht einfangen. Denn der Highway 61 ist kaum befahren, im Autoradio läuft Allerweltsgedudel, unterbrochen von Werbung und dem Geschwätz eines fundamentalistischen Priesters. Die Landschaft zieht sich Acker um Acker öde dahin - eine brachliegende und abgeerntete Fläche nach der anderen. Immerhin: Die Temperaturen sind auf erträgliche 20 Grad abgesunken. Pinkelpause an einem Feldweg gleich neben der Autobahn. Erste Begegnung mit Baumwolle - so also sieht »cotton« aus. Die schneeweißen Flocken sind zum Abtransport bereit in mannshohe, meterlange Plastikwürste gepresst.

Auf Feldern wie diesen schufteten sich in der feuchten Hitze zuerst Hunderttausende aus Afrika importierte Sklaven die Finger blutig. Statt ihres Lohnes erhielten sie von den weißen Plantagenbesitzern die Peitsche oder die Kugel. Nach dem amerikanischen Bürgerkrieg und dem Ende der Sklaverei etablierte sich hier die »sharecropping«-Wirtschaft. Die Schwarzen durften sich als Pachtbauern verdingen und wurden erneut zu Opfern, dieses Mal einer in Gesetz gegossenen, halbfeudalen Raubwirtschaft.

Die Mechanisierung der Baumwollernte machte in den 1930er Jahren, mitten in der Zeit der Großen Depression, Schluss mit Landeigentum und den Arbeitsplätzen auf den Feldern. Hunderttausende von Sharecroppern wanderten in die Städte im Norden aus, etwa nach Chicago. Bei dieser »Great Migration« nahmen sie auch den Blues mit sich.

Das Grab des »Königs des Delta-Blues«, Robert Johnson, ist nicht so leicht zu finden. Denn obwohl es sich die in den 90er Jahren gegründete »Blues Commission«, ein regionaler Zusammenschluss aus Historikern und Tourismusexperten, zur Aufgabe machte, die Bluesgeschichte im Delta nachvollziehbar zu machen, weist kein Schild den Weg zu Johnsons letzter Ruhestätte.

Irgendwo außerhalb des Örtchens Greenwood findet sich dann aber doch an einer Landstraße ein Wegweiser zum »Little Zion«-Friedhof. Man schreitet über Laub, das sich über das Grün gelegt hat, an armseligen Grabsteinen vorbei. Unter einem Pekannussbaum findet sich das hüfthohe Grabmal. Es waren wohl Bluesfans, die ihm zu Ehren eine Flasche Billigbier, scharfe Soße und Blümchen hinterlassen haben. Johnson starb 26-jährig am 8. Mai 1911. Er soll dem Teufel seine Seele verkauft und dafür im Gegenzug seine großartige Spielweise erhalten haben.

Dass die USA am »Ursprung der amerikanischen Musik« dem König des Delta-Blues ein so schockierend armseliges Andenken erweisen, spricht Bände. Immerhin: An der Friedhofspforte ist Johnsons Werdegang auf einer Infotafel vermerkt. Unter welchen Umständen der große Bluesman im jungen Alter starb, ist nie ganz geklärt worden.

Erst viele Jahre nach seinem Tod wurde Johnsons Kunst mit der Plattenveröffentlichung seiner verkratzten Aufnahmen einem größeren Publikum bekannt. Der britische Musiker Eric Clapton erklärte ihn zum »wichtigsten Blues-Musiker aller Zeiten«. Die renommierte Musikzeitschrift »Rolling Stone« nannte ihn einen der besten Gitarristen. Aber diese Ehre wurde Johnson und dem Delta-Blues eben erst 70 Jahre nach seinem Ableben zuteil.

Das Elend des amerikanischen Kulturerbes ist in Mississippi zweifellos mit dem sozialen Elend verknüpft, aus dem sich der Staat seit Generationen nicht lösen kann. Seit der »Great Migration« während der Depressionszeit ist die Bevölkerung um die Hälfte geschrumpft. Auf dem Land lebt kaum mehr jemand. Aus ehemaligen Bevölkerungszentren im Mississippi-Delta - Orten wie Greenwood, Greenville oder Indianola - sind in den vergangenen zehn Jahren weitere 20 Prozent Einwohner abgewandert. Die Fenster und Türen vieler so oder so bescheidener Einfamilienhäuschen sind mit Sperrholz vernagelt und von Gestrüpp überwachsen.

Die Realität kommt der Karikatur von der verfallenen Armutsregion, die sich nicht mehr aufrappeln kann, immer näher: Die einzigen Gebäude, vor denen sich Leben regt, sind Kirchen und Schnapsgeschäfte. Auch über das Delta hinaus rangiert der Gesamtstaat Mississippi in Sozialerhebungen im USA-Durchschnitt ganz unten: das niedrigste Haushaltseinkommen, die höchste Rate mit Menschen unter der amtlich festgelegten Armutsgrenze und gleichzeitig der Bundesstaat mit den meisten Menschen mit Übergewicht.

»Mississippi hat den Blues«, sagt dazu Jack Hayes aus dem ruhmreichen Clarksdale. Der Ort war früher einmal ein Baumwollzentrum. Sämtliche Bluesmusiker übernachteten hier zu Zeiten der Segregation auf dem Weg in den Norden oder traten in einem der Bluesclubs auf, etwa Bessie Smith, Howling Wolf oder B.B. King.

Der ehemalige Polizist Hayes, ein Weißer, ist in dem Nest mit heute gut 17 000 Einwohnern geboren und aufgewachsen. Er arbeitet, wenn ein Konzert stattfindet, als Türsteher im »Ground Zero Blues Club«. Der vor 13 Jahren gegründete Laden gehört dem berühmten Schauspieler Morgan Freeman, der ebenfalls aus dem Delta stammt. Den Blues habe der Staat in zweierlei Hinsicht, meint Hayes, dessen starker Südstaatenslang schwer zu verstehen ist. Zum einen wegen der Entstehungsgeschichte der Musik im Delta, zum anderen, weil »den Blues haben« gleichbedeutend mit Traurigkeit sei. »Die Jungen wandern ab, auch heute noch«, sagt Hayes. Und »denen mit Geld ist eine Investition bei uns nichts wert«. Der Blues-Tourismus von Amerikanern aus anderen Bundesstaaten und aus dem Ausland sei das einzige, das Clarksdale noch halbwegs zusammenhalte.

Die Stadt beherbergt tatsächlich neben der für eine Stadt ihrer Größe üblichen Infrastruktur ein paar Blues-Kneipen wie den »Ground Zero« auch das »Delta Blues Museum« gleich nebenan. Es ist der bisher ambitionierteste Versuch, mit Hilfe von Privatspenden die Musikgeschichte des Mississippi-Deltas zu vermitteln. Historische Schallplattenhüllen, Gitarren, Mundharmonikas, Bühnengewänder und bebilderte Biographien von Bluesgrößen geben einen Eindruck davon, welch kultureller Reichtum in Mississippi verborgen ist. Das wichtigste und größte Exemplar ist die aus Zedernholzplanken zusammengebaute Baumwollpflückerhütte, in der eine Blueslegende lebte, die unter dem Namen Muddy Waters bekannt wurde. Sein Geburtsname war McKinley Morganfield.

Doch selbst das »Delta Blues Museum« streift die Sozialgeschichte des Blues nur am Rande. Außer Acht gelassen wird der Ursprung der Musik: die Kultur der afrikanischen Sklaven aus dem heutigen Kamerun, aus Kongo oder Gambia. Aus letzterem kommen die Melodien und die Instrumente, aus ersteren der Rhythmus. Nicht zuletzt wird ignoriert, dass sich der schwarze Blues Amerikas auch von der Quelle indianischer Kultur her speist, vom lauten Leiden und Klagen der Ureinwohner des Landes.

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