nd-aktuell.de / 05.01.2015 / Kultur / Seite 16

Auf linken Pfaden

»Das Reich des kleineren Übels«: Jean-Claude Michéas Liberalismuskritik

Christian Baron

Selten passiert es dieser Tage überhaupt noch, dass Einlassungen hauptamtlicher Politiker als witzig und geistreich zugleich gelten. Am 16. Dezember war es aber mal wieder soweit: Cem Özdemir, seines Zeichens Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, stellte bei Facebook ein altes Familienfoto ins Internet, das seine in den 1960er Jahren als Gastarbeiter aus der Türkei in die Bundesrepublik Deutschland gekommenen Eltern vor einem mit reichlich Lametta, Kerzen und Christbaumkugeln geschmückten Weihnachtsbaum zeigt. Darunter schrieb der 49-Jährige mit Blick auf die muslimfeindliche »Pegida«-Bewegung: »Erwischt: Meine das Abendland bedrohenden fundamentalistischen Eltern bei islamistischer Zeremonie.« Fast 30 000 Menschen klickten binnen kürzester Zeit den »Gefällt mir«-Button, viele Medien klopften dem studierten Sozialpädagigen in lobhudelnden Artikeln anerkennend auf die Schulter.

Zwei Dinge sind daran interessant: Zunächst die Renitenz, die Widerborstigkeit, der Mut, die das Publikum dem ausgebufften Medienprofi zuschrieb, weil er mit einfachsten Mitteln die durch einen bunten (wenn auch braun gesprenkelten) Haufen artikulierte Angst vor einer »Islamisierung des Abendlandes« als unbegründet entlarvt hat. Viel aufschlussreicher aber ist die Tatsache, dass die sich als aufgeklärt verstehende Medienmasse da einem Mann zujubelt, der mit seinem ironischen Kommentar zwar vorgibt, antirassistisch und menschenfreundlich zu sein, tatsächlich jedoch den bedingungslosen Konformismus des deutschen »Schaffe, schaffe, Häusle baue« propagiert. Warum sonst sollte der türkeistämmige Schwabe darauf hinweisen müssen, dass seine Eltern sich so brav anpassten, dass sie sogar artig ein christliches Fest feierten?

Özdemir plädiert also unter dem Deckmantel der Weltoffenheit für die bedingungslose Assimilation der Eingewanderten an die westlich-kapitalistische Kultur und erweist sich inmitten seiner linken Attitüde als erzkonservativer Geist. Ein offensichtlicher Widerspruch, der Özdemir nicht aufzufallen scheint. Das mag daran liegen, dass heutzutage die Sichtweise als selbstverständlich gilt, wonach der »linke«, sich auf die individuellen Freiheitsrechte berufende Liberalismus und der »rechte«, den freien Markt verabsolutierende Wirtschaftsliberalismus scharf zu trennen seien. Pustekuchen, sagt Jean-Claude Michéa. Beide, erklärt der französische Philosoph in seinem Buch »Das Reich des kleineren Übels«, seien Irrwege mit ein und derselben Wurzel.

So sei der liberale Kerngedanke »von biblischer Schlichtheit«. Beruhe er doch mit der abschreckenden historischen Erfahrung der Religionskriege des 17. Jahrhunderts auf dem Gedanken, dass es nur ein einziges Mittel gebe, den »Krieg aller gegen alle« zu verhindern: »Es genüge, (…) die Harmonisierung des individuellen Verhaltens den neutralen und unpersönlichen Mechanismen von Recht und Markt zu überlassen.« Schließlich bestehe die Triebfeder allen menschlichen Handelns in der Verfolgung des je eigenen Nutzens. Oder anders formuliert: Der liberale Staat müsse zur Aufrechterhaltung eines friedlichen Miteinanders unbedingt darauf verzichten, seinen Mitgliedern eine bestimmte Vorstellung des ethisch richtigen Lebens aufzuzwingen. Es ist ein Staat ohne Ideen. Oder - wie die Liberalen sagen - ohne Ideologien.

Deshalb nenne sich der Liberalismus auch niemals sozialistisch und erst recht niemals kapitalistisch - es gehe eben darum, eine allgemeingültige Rechtsform zu schaffen, »ohne sich auf das geringste Werturteil zu stützen«. Michéa nennt diese der Präzision der Naturwissenschaften nacheifernde Sicht »axiologische Neutralität«, die immerzu darauf erpicht sei, statt des ansonsten unausweichlichen Krieges »das Reich des kleineren Übels« zu wählen. Etabliert habe sich dadurch in liberalen Demokratien über einen langen Zeitraum die findige Strategie, so zu tun, als handele die staatliche Gewalt gerecht, weil neutral. Für Michéa ist dieser Gedankengang nicht nur schlicht, er impfe der Gesellschaft überdies eine gefährliche Doktrin ein, die auf Egoismus und Selbstverwirklichung, auf kalte Berechnung und persönliche Bereicherung hinauslaufe.

Hier kommen nun die Linken ins Spiel. Das liberale Denkkonstrukt nämlich werde von Links- und Wirtschaftsliberalen gleichermaßen geteilt. Eine liberale Gesellschaft, so Michéa, benötige lediglich gesetzliche Vorschriften, die den Menschen das Recht geben, nach ihrer je eigenen Definition eines guten Lebens zu existieren (Linksliberalismus) und einen gemeinsamen Markt, auf dem die Menschen nach den Regeln eines freien Wettbewerbs alle Waren und Dienstleistungen tauschen können, ohne vom Staat daran gehindert zu werden (Wirtschaftsliberalismus). Jene »zivilisatorische Sackgasse«, in die dies führen müsse, arbeitet Michéa im zweiten Teil seines Werkes mustergültig heraus. Für ihn verleiht der missionarische Eifer, den Menschen ihre als ideologische Teufeleien verstandenen Wertvorstellungen auszutreiben, dem Liberalismus den Status einer »säkularen Religion«.

In einer Welt des permanenten Wandels, des technischen Fortschritts, der offenkundigen Klimakatastrophe, in der Alternativen zu den Marktmechanismen plötzlich nicht nur denkbar, sondern unabdingbar erscheinen, müsse der Liberalismus immer mehr Kraft aufwenden, um im Alltag das rein Rationale als in der Natur des Menschen liegend nachzuweisen, weshalb der Ruf nach mehr Leistung, mehr Selbstoptimierung und mehr Eigenverantwortung immer lauter werde, je deutlicher die gesellschaftlichen Funktionsmechanismen von neutralem Recht und wertfreiem Markt versagen. So entstehe eine Gesellschaft, in der auch die privatesten Beziehungen dem Primat des Ökonomischen unterliegen - auch im Denksystem der Linksliberalen.

In ihrem Versuch, »alle Formen von Diskriminierung und Ausschluss« zu ahnden, gehen sie für Michéa dem kalt-rationalen Denken der Wirtschaftsliberalen dienstbar zur Hand, indem sie vordergründig das »Recht aller auf alles« durchzusetzen trachten und zugleich Werte, die die bestehende Eigentumsordnung angreifen - sagen wir es frei heraus: den Sozialismus - als Ideologie verdammen. Was dem herrschenden Wirtschaftsliberalismus die Möglichkeit einräume, sich als neutral zu tarnen und faktisch eine in seinem Sinne gleichförmige Gesellschaft zu erschaffen sowie seinen marktgläubigen Neutralitätsanspruch - sagen wir es frei heraus: den Kapitalismus - zu verabsolutieren. Verwunderlich ist es da gewiss nicht mehr, dass Cem Özdemir in seiner Partei als Vordenker jener Strömung gilt, die in möglichst naher Zukunft auf Bundesebene ein schwarz-grünes Projekt mit einer Regierungskoalition aus CDU/CSU und Grünen auflegen will.

Jean-Claude Michéa: Das Reich des kleineren Übels. Über die liberale Gesellschaft. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2014. 192 Seiten, geb., 19,90 €.