Das russische Berlin

Vera Lourié: Zeitzeugin

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Eine Achtzigjährige verliebt sich in die jüngere Ehefrau ihres Hausarztes. Ihre Liebe wird als Freundschaft erwidert. Um der Geliebten nahe zu sein, schreibt sie ihr Briefe, die ihr Leben erzählen: Vera Lourié, 1901 in Petersburg geboren, schloss sich dort einer Dichtergruppe an und floh wenige Jahre nach der Oktoberrevolution 1921 mit ihrer Familie nach Berlin. Hier hat sie bis zu ihrem Tod im Jahre 1998 gelebt. Hier hat sie, Tochter einer Jüdin, auch die Nazizeit überstanden.

Von ihrer Jugend in Russland und vor allem von ihrem Leben in Berlin handeln ihre Briefe. Es sind Zeitzeugnisse, die nicht als solche geschrieben sind und - gerade deshalb - einen besonderen Wert haben. Das gilt vor allem für die ersten Jahre nach der Übersiedlung, als in Berlin 300 000 Russen lebten, Berlin »die Hauptstadt der russischen Literatur« war, als man von »Charlottengrad« sprach und die westlichen Stadtteile von der russischen Bevölkerung, ihren Restaurants, Geschäften, Festen und Zeitungen geprägt waren. Darüber sind schon viele Bücher verfasst worden. Die Briefe von Vera Lourié, die in diesen Kreisen verkehrte, ergänzen das Bekannte um das Persönliche.

Einzigartig ist das Zeitzeugnis dieser Briefe hinsichtlich der Zeit des Nationalsozialismus. Vera Lourié und vor allem ihre jüdische Mutter waren ja extrem gefährdet. Ihre Mutter ist nach Theresienstadt deportiert worden, hat dort aber überlebt. Sie selbst war wochenlang in Gestapo-Haft und wurde - ohne sich zu kompromittieren - wieder freigelassen. Vor allem erzählt sie von Leuten aus dieser Zeit. Es gab »menschliche« SS-Leute, sie kannte Russen, die bekennende Nazis waren, hat Mitgliedern der Widerstandsgruppe »Rote Kapelle« Unterkunft gewährt. Sie schreibt bewegend über die junge jüdische Widerstandskämpferin Liane Berkowitz, die auf Flugzetteln zum Widerstand aufgerufen hatte. Als sie im Juni 1942 verhaftet wurde, war sie schwanger und wurde erst hingerichtet, nachdem sie ihr Kind geboren und ein paar Wochen gestillt hatte. Jeder Mensch, von dem sie ihrer Geliebten schreibt, ersteht auch dem Leser der jetzt erstmals vollständig veröffentlichten Briefe als ein Geschöpf mit eigenen Ängsten, Fehlern, Hoffnungen, Katastrophen. Dabei klingt in diesen Briefen ein positiver Grundton an, der die condition humaine nicht nur als Last sondern auch als Chance erkennt.

Vera Lourié hat in jungen Jahren in Petrograd (so hieß St.Petersburg im Ersten Weltkrieg als der deutsche Name »feindlich« wurde, dann Leningrad und heute wieder St. Petersburg) so etwas wie »creative writing« gelernt, später in Berlin journalistisch gearbeitet und Gedichte geschrieben. Ihre Briefe, die ja einen sehr privaten Anteil haben, lesen sich wie literarisch gemeinte Texte. Sie sind genau beobachtet, »stimmungsvoll« bis in die Luftschutzkeller hinein, zurückhaltend mit Urteilen, die nicht dem unmittelbaren Eindruck entspringen, manchmal humorvoll, selten bitter.

Die Publizistin und Slawistin Doris Liebermann hatte Vera Lourié vor über 15 Jahren interviewt und hat jetzt ihre Briefe herausgegeben. Sie hat dem Buch eine kenntnisreiche und einfühlsame Einleitung und zwei knapp kommentierte Namensregister über die verzweigte Familien Vera Louriés und Persönlichkeiten, die in den Briefen eine Rolle spielen, beigegeben. Das Buch wird dadurch hilfreich erschlossen und wird, über den Lesegenuss hinaus zur interessanten Quelle. Bravo!

Vera Lourié: Briefe an Dich - Erinnerungen an das russische Berlin. Hg. v. Doris Liebermann. Schöffling & Co. 261 S., geb., 22,95 €.

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