Das Blaue vom Himmel

Uraufführung im Atze Musiktheater: »Matti und Sami und die drei größten Fehler des Universums«

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 5 Min.

Das Theater ist ein Lügenbetrieb. Seiner Illusionsmaschinerie gelingt es zuweilen, selbst gestandene Realisten zu Tränen zu rühren. Für die Dauer einer Aufführung nehmen sie das Bühnengeschehen für bare Münze und verschmelzen im Herzen damit - wider besseres Wissen. Denn natürlich ist den meisten Erwachsenen eigentlich klar, dass dieser Hamlet da vorne nicht wirklich ein dänischer Prinz ist, den der Mord an seinem Vater in den Wahnsinn treibt, sondern ein Schauspieler, der nachher mit der U-Bahn nach Hause fährt.

Anders ist das bei kleinen Kindern. Denen kann man fast alles weismachen - auf der Bühne wie im Leben. Um die ein Kinderleben in seinen Grundfesten erschütternde Erkenntnis, dass selbst die eigenen Eltern zuweilen so heftig schwindeln, dass man es gar nicht glauben mag, geht es in Salah Naouras Kinderbuch »Matti und Sami und die drei größten Fehler des Universums«. Textautor und Komponist Thomas Sutter hat die Romanvorlage zu einem Singspiel für Kinder ab sieben Jahren umgearbeitet, das jetzt am Atze Musiktheater in seiner eigenen Inszenierung zur Uraufführung kam.

Im Gegensatz zu den Figuren in dieser tollen Geschichte macht das Stück überhaupt keinen Hehl daraus, dass hier, auf dem Theater, von vorne bis hintern geflunkert wird. Dank einer Menge witziger Regieeinfälle und eines in seiner variablen Schlichtheit grandiosen Bühnenbilds (Jochen G. Hochfeld) gerät die Aufführung zu einem Paradebeispiel dafür, wie man gutgläubige Leute durch das gekonnte Vorspiel falscher Tatsachen ganz wunderbar hinters Licht führen kann. Wie es sich für ein Musiktheater gehört, tragen auch Melodien, Klänge und Geräusche ihren gehörigen Teil dazu bei, uns das Blaue vom Himmel herunterzuschwindeln (musikalische Leitung: Thomas Lotz). Zwischen finnischen Birken (die »in Wirklichkeit« nichts anderes als bemalte Röhren sind) hört man eine Schar von Vögeln so zauberhaft tirilieren, dass man sie wirklich zu sehen glaubt. Dabei sind es »in Wirklichkeit« nur die Lippen der Bühnenmusiker, die diese Geräusche hervorbringen. Dann das Summen einer Mücke und - patsch! - die Hand, die sie auf einem Arm erschlägt. Nein, »in Wirklichkeit« gibt’s im Winter keine Mücken, nicht mal im Wedding.

Diese starke Atze-Truppe versteht es wahrlich, Bäume auszureißen - und zwar aus der Luft. Denn die Birkenröhren sind an Magneten befestigt, die von der Decke hängen. Für den Szenenwechsel aus dem finnischen Wald in die Berliner Wohnung rupfen die Schauspieler sie einfach ab und bringen sie hüpfend und tanzend fort. Wozu Bühnenarbeiter? Alle Umbauten und Rollenwechsel (Stephan Hoppe und Nina Lorck-Schierning spielen gleich mehrere Figuren, Percussionist Markus Schmidt ist auch in der Rolle des finnischen Onkels Jussi zu bestaunen) hat Theaterleiter Sutter einfach ins Stück eingeschrieben.

Und so passiert es, dass eine Badewanne im Handumdrehen zum Ententeich wird. Die Birkenstämme, auf den synchron schaukelnden Schultern der Schauspieler in die Horizontale gebracht, gehen als Tragflächen eines Flugzeugs durch. Und um ein Taxi über die Bühne fahren zu lassen, genügen zwei Autoräder, ein Lenkrad und ein Taxi-Schild am Stiel. Am tollsten treiben es die Akteure, wenn sie zur glaubhaften Simulation einer Telefonzelle keine anderen Requisiten benötigen als ihre Körper. Vier Menschen im Karree, ein Arm als Strippe, die Hand als Hörer; fertig ist die Telefonzelle. Wobei, Telefonzelle? Sicher auch eine Lüge, die gibt’s doch gar nicht mehr. Heute telefoniert man mit dem Smartphone, beziehungsweise, um auf der Atze-Bühne zu bleiben, mit einer Kartoffelchips-Rolle, die ohne jeden Zweifel ein Handy ist.

Zu Beginn des Stücks also die finnische Einöde, darin Mattis jüngerer Bruder Sami (Kevin Klisch) und die Eltern (Christian-Otto Hille, Heleen Joor) sichtlich schlecht gelaunt zwischen gepackten Koffern sitzen. Matti (Iljá Pletner) aber ist vorsichtshalber auf einen Baum geklettert, das heißt, er hängt an einem Seil. Und er tut gut daran, sich derart vor dem Zorn seiner Familie in Sicherheit zu bringen. »Vielen Dank«, ruft die Mutter zwar zu ihm hinauf, aber Matti weiß: »Das war ironisch« und erklärt den Kindern, die es nicht wissen, dass man von Ironie spricht, wenn jemand das Gegenteil dessen sagt, was er eigentlich meint - also auch so eine Art Lüge. Was Mama eigentlich meint: »Du hast unser ganzes Leben ruiniert!«

Wie es dazu kam, dass die deutsch-finnische Familie ihre Berliner Existenz an den Nagel hängte und nun völlig mittellos in Finnland gestrandet ist, das wird in einer 90-minütigen Rückblende (mit Pause) erzählt. Die Musik springt dabei durch die Stile (von finnischer Polka bis zur poppigen Liedbegleitung), um die Geschichte mit ihren Mitteln zu kommentieren, anzureichern und auszuschmücken. Die drei unerhörten Lügen der Eltern, die Mattis Universum durcheinanderbringen und ihn schließlich selber zum Lügen bringen, haben es wirklich in sich. Allerdings stellt sich bald heraus, dass die Eltern nicht die Einzigen sind, die hier aus Bequemlichkeit, Eitelkeit oder zu ihrem eigenen Vorteil unentwegt schwindeln. Die Werbung, die Zeitung, das Fernsehen und die Bank stehen ihnen da in nichts nach.

Zum Schluss dürfte allen klar sein, dass jede Lüge eine neue Lüge nach sich zieht. Klar wird aber auch, dass nicht jede Schwindelei gleich ins Verderben führt. Wie sonst wäre das - allerdings etwas unvermittelte und deshalb kaum nachvollziehbare - Happy End zu erklären?

Nächste Vorstellungen: 28., 29., 31.1., Tel.: (030) 81 79 91 88

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