Diskussionen um Torlinientechnik

Bei der Handball-WM in Katar wird überraschend eine Regelrevolution vollzogen

  • Christoph Stukenbrock und Jens Diestelkamp, Doha
  • Lesedauer: 3 Min.
Die WM-Premiere der Torlinientechnik war am Auftaktwochenende in Katar das Gesprächsthema Nr. eins. Eine Einführung des »Video Referee Assistance System« auf Vereinsebene dürfte schwer werden.

Regelrevolution im Handball: Die »klammheimliche« Einführung der Torlinientechnik hat zu Auftakt der WM in Katar für Wirbel gesorgt. Schiedsrichter und Funktionäre sind voll des Lobes über das neue Hilfsmittel - doch die Spieler sind skeptisch. Sie wurden vom Einsatz des Videobeweises überrascht.

»Es war schon komisch. Wir wussten gar nicht, dass es so etwas gibt, als es plötzlich dieses Time-out gab«, sagte Nationaltorwart Carsten Lichtlein, der im Spiel gegen Polen als erster deutscher WM-Keeper »Opfer« der neuen Technik geworden war. Erst nach kurzer Unterbrechung und Betrachtung der Videobilder gab der dafür abgestellte IHF-Delegierte via Funk das Signal an die Schiedsrichter: Der Ball war in vollem Umfang hinter der Linie: Tor für Polen.

»Obwohl in diesem Fall der Gegner profitiert hat, finde ich das eine gute Sache«, sagte Lichtlein. Sein Torhüterkollege Silvio Heinevetter ist dagegen noch nicht überzeugt. »Die Neuerung ist interessant, aber gewöhnungsbedürftig«, sagte der Berliner. Bei den Fußballern, wo ein einziger Treffer häufig Spiele entscheide, habe eine solche Regel eine viel größere Bedeutung. »Ich brauche sie nicht«, so Heinevetter.

Drei Kameras, die an der Querlatte jedes Tores angebracht sind, wachen bei den Spielen von Doha über die Torlinien. Sie sollen die Arbeit der Referees erleichtern. Entwickelt wurde das System, das bisher nur vereinzelt bei Europacupspielen zum Einsatz kam, von der französischen Firma »Vision Sport«. Für den Weltverband IHF gilt es zunächst als Testballon für kommende Großereignisse. Die Handballfunktionäre haben die hitzigen Diskussionen im Fußball genauestens verfolgt.

Die beiden deutschen WM-Schiedsrichter Lars Geipel und Markus Helbig sind von ihrem neuen Hilfsmittel unterdessen begeistert. »Ich finde das sehr gut. Die Technik ist eine absolute Hilfe für uns Schiedsrichter und im Sinne der Gerechtigkeit. Man vermeidet damit unnötige Diskussionen und verändert, nicht den Geist des Spiels«, sagte Geipel. Die neue Regel werde das Verhältnis zwischen Spielern, Trainern und Offiziellen nachhaltig verbessern.

Neben seiner Macht über die Torlinie ist der IHF-Supervisor noch mit weiteren Rechten ausgestattet. Mit Blick auf seinen Monitor darf er bei Zeitstrafen und Platzverweisen einschreiten, die an den falschen Spieler vergeben wurden, oder Vergehen ahnden, die die Unparteiischen übersehen haben - allerdings nur, bis der Ball wieder freigegeben ist.

Beim Deutschen Handballbund (DHB) wird die Innovation begrüßt. »Das ist auf jeden Fall ein Fortschritt für den Handball, gerade für große Turniere, wo es um einen Welt- oder Europameistertitel oder vielleicht sogar um den Olympiasieg geht«, sagte DHB-Vize Bob Hanning. Und Bundestrainer Dagur Sigurdsson meinte: »Ich finde die Regel absolut top.«

Im deutschen Liga-Altag wird die neue Regel erstmal nicht zum Einsatz kommen. »So wie die Technik hier verwendet wird, finde ich sie sehr gut«, sagte HBL-Geschäftsführer Frank Bohmann: »Für den flächendeckenden Einsatz in 1. und 2. Liga ist sie derzeit aber zu teuer.« Die Zahlen aus dem Fußball schrecken ab: die Bundesligisten müssen ab der kommenden Saison jeweils 250 000 Euro berappen. Im Handball würde die Technik, so Bohmann, »rund 5000 Euro« kosten. Pro Spiel. SID

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal