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Kampfbestimmte Logik nach schönsten Noten

«Die Akte Carmen» in der Neuköllner Oper findet zu Bizet

  • Lucía Tirado
  • Lesedauer: 4 Min.

Er zu ihr: «Du bist der Teufel!» Sie zu ihm: «Das bin ich!» Die Zigeunerin Carmen verdeckt darauf mit der Hand ihren Mund, erschrocken, wozu der schöne «Grenzbulle» José sie provozierte. Sie weiß, zu welchen Gefühlsentladungen sie neigt. Sei es in der Liebe, sei es im Zorn. Überzeugend, wie sie singt, Mann möge sich in Acht nehmen, wenn sie liebe.

Starke Gefühle in der Neuköllner Oper. Im Musiktheater an der Karl-Marx-Straße inszenierte David Muchtar-Samorai mit dem Arrangement von Bijan Azadian und der Textbearbeitung von Bernhard Glocksin Georges Bizets Oper «Carmen» als «Die Akte Carmen». In Gedanken an das Schicksal nicht allein in Berlin und Deutschland illegal lebenden Menschen entstand die neue Produktion als «europäisches Projekt» und wird dabei als «pan-europäische Oper schlechthin in einer EU der Ausgrenzung und Massenarbeitslosigkeit unter Jugendlichen» betrachtet.

In allen Rollen stimmlich stark besetzt, brachte die Premiere der ersten Besetzung mit Farrah El Dibany als Carmen und Christian Schleicher als José - die zweite mit Valentina Stadler als Carmen erlebte eine eigene Premiere - Jubel und Bravos des Publikums.

In der geschickt auf zwei Stunden gekürzten Fassung ist die von 1820 stammende Handlung ins Heute transferiert worden (Kostüme von Urte Eicker). Der Ort der Handlung wurde nahe Sevilla belassen und das Stück durch ein von Carmen gesungenes, berührendes altes sephardisches Volkslied ergänzt. Die Leute mit «ungeklärten Aufenthalts- und Grundrechten» schmuggeln Rauschgift und Zigaretten. Lustig ist das Zigeunerleben - und doch wieder nicht. Auf seine Weise wirk es ehrlich und beneidenswert intensiv. Auch wenn es von außen so scheinen mag, man lebt nicht vor sich hin.

Die Neuköllner Oper will mit der Inszenierung nah an den Ursprung von Bizets Werk, das nach einer Novelle von Prosper Mérimée mit eingängiger Musik als Opéra Comique komponiert wurde. Zunächst wurde das vom Publikum bei der Uraufführung 1875 als sozialkritisch schonungslos und deshalb brüskierend empfunden. Erst später begann das Volk die Oper zu lieben.«

Nun kann die Überlieferung der Reaktion der ersten Aufführung niemand weder bestätigen noch widerlegen. Bei der aktuellen künstlerischen Umsetzung der meist gespielten Oper der Welt liegt aber auf der Hand, dass sie Hochkultur signalisierendes abstreift und sich dem Thema zielsicher widmet. Die von Männern und deren kampfbestimmter Logik geprägte Gesellschaft lässt klar mit dem grundlegenden Besitzmotiv bedenkenlose Gewalt gegenüber Frauen erkennen, auch wenn sie im Fall von Carmen nicht straflos ausgeht. »Es ist nicht meine Schuld. Die Zigeuner haben sie so erzogen.« Das ist Josés zweifelhafte Begründung, nachdem er Carmen das Messer in den Körper gerammt hatte, weil sie ihm nicht mehr gehören wollte.

Heinz Hausers Bühnenbild mit sich kreuzenden Gummibändern baut Hürden. Handelnde müssen sie dem Operninhalt entsprechend überwinden. Die Tavernentheke wird durch gestapelte Kartons mit Brett darüber dargestellt, ein Kreis aus Bierdosen ist die Arena. Allein für das Orchester - diesmal als Band deklariert, unter Leitung von Hans-Peter Kirchberg und Insa Bernds - bewies der Bühnenbildner kein Geschick. Es wirkt dermaßen lieblos in die Ecke verfrachtet und räumlich beengt, dass es möglicherweise unsichtbar besser platziert wäre. Von seiner hier gewohnt exakten Arbeit lässt es sich indes dadurch nicht abbringen.

Lars Feistkorn singt neben Schleicher als zweiter korrupter »Bulle« einen wunderbaren Bass, Felix Bruder gut den hochnäsigen Torero Escamillo, Mirjam Miesterfeldt gekonnt unbedarft die Micaela aus Josés Dorf. Allesamt vom Chor mit Können beschenkt - ein Erfolg.

Das ist auch weiteren Carmen-Projekten zu wünschen, die von der Neuköllner Oper initiiert nun andernorts entstehen. Beispielsweise in Barcelona mit vier jungen spanischen Komponisten und Autoren. Im Herbst sollen sie in Neukölln gastieren.

Nächste Vorstellungen: 25.1., 15 Uhr, 28. und 29.1., 20 Uhr; Neuköllner Oper, Karl-Marx-Str. 131, 12043 Berlin, Tel.: (030) 68 89 07 77; www.neukoellneroper.de

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