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Die Mär von der alternativlosen Ordnung

Herbert Schui enthüllt die politischen Mythen der Herrschenden, die jeglichem Widerstand vorbeugen sollen

  • André Brie
  • Lesedauer: 4 Min.

Wer immer sich in den vergangenen drei Jahrzehnten mit der neoliberal genannten und tatsächlich markt- und wirtschaftsradikalen Politik und ihrer Ideologie auseinandersetzte - und welcher Linke tat das nicht? -, kritisierte deren unsoziale sowie negative kulturelle, umweltpolitische und selbst wirtschaftlich kontraproduktive Folgen. Wer das tat, wandte sich natürlich auch gegen die verlogene Propaganda und Wortwahl, die herrschende Politikerinnen und Politiker, Medien, Wirtschaftswissenschaft benutzen, um ihre neoliberale Strategie gesellschaftlich zu begründen und durchzusetzen. Deren Menschenfeindlichkeit ist offensichtlich. Linke können sich jedoch nicht damit begnügen, dies in der politischen oder wissenschaftlichen Auseinandersetzung anzuprangern, notwendig ist zugleich die Durchsetzung einer alternativen Politik. Eben daran ist Herbert Schui gelegen.

In seinem neuen Buch analysiert der Professor für Volkswirtschaftslehre und ehemalige Bundestagsabgeordnete für DIE LINKE empirisch und argumentativ, wie sehr die herrschende Politik, Ideologie und Propaganda die Gesellschaft demoralisieren, vor allem die sozial Benachteiligten lähmen und die neoliberale Herrschaft stabilisieren. Seine pointierten Kapitelüberschriften wie etwa »Die Befriedung der Ghettos: Klassenapartheid« oder »Einheitssprache und vereinheitlichte öffentliche Meinung« verweisen bereits auf Grundübel und lassen an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig. Leidenschaftlich befasst sich Schui mit einem Problem, das auch mich angesichts der zunehmenden Wahlverweigerung umtreibt: der Ausschluss einer besorgniserregend wachsenden Anzahl von Menschen aus zivilgesellschaftlichen und widerständigen Bewegungen.

Wem politischer oder rhetorischer Widerspruch nicht genügt, wer auch Analyse, Theorie, Wissenschaft und Empirie haben möchte und benötigt, wird diese Schrift begrüßen. Der Autor liefert in zwölf Kapiteln einen fakten- und zitatenreichen Überblick über die zentralen Mythen, Diffamierungen und Gefahren der hierzulande herrschenden Politik.

Schui entlarvt beispielsweise den von CDU/CSU und FDP bis hin zur SPD gern und oft strapazierten Mythos vom »Leistungsträger« und stellt dem die wahren Leistungsträger gegenüber - jene Abermillionen Menschen, die in der häuslichen und medizinischen Pflege, im Einzelhandel und Friseurhandwerk, an Schulen und Theatern, in Reinigungs- oder Wachfirmen für die Gesellschaft und deren kleinste Zelle, die Familie, unerlässliche Leistungen erbringen und nach wie vor nicht gerecht und fair entlohnt werden. Die angeblichen »Leistungsträger« werden von den Propagandisten wie weiland im preußischen Dreiklassenwahlrecht am Steueraufkommen gemessen. Aber anders als im Preußen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert begehren die Unterdrückten und Benachteiligten in Deutschland kaum noch auf. Es mag eine Selbstaufgabe sein, doch deren Kapitulation und Resignation speist sich offenbar aus der Erkenntnis, dass sie für die Politik nicht mehr zählen, abgeschrieben sind. Weitere Mythen, die Schui akribisch und überzeugend zerfetzt, sind die von der Überalterung der Gesellschaft und der Staatsverschuldung. Einer vernichtenden Kritik unterzieht der Autor den Mythos von den Zwängen des Marktes, der als etwas »absolut Naturgesetzliches« ausgegeben wird, ebenso jenen Mythos, der die bestehende Ordnung »als einzige, die der Natur des Menschen angemessen« sei, verteidigt. Zweck dieser Mythen ist es, Ruhe und Ordnung zu sichern - was sicher auch durch materielle Zugeständnisse oder durch Polizeigewalt möglich, aber kostspieliger und unschöner wäre.

»Der Konflikt muss verhindert werden, noch bevor er entsteht«, ist das Credo der Herrschenden. Dem dienen politische Mythen. »Die soziale Umwelt soll wahrgenommen werden als eine Welt, die keinen Anlass bietet, Konflikte einzugehen«, schreibt Schui. Demzufolge soll von der Wirklichkeit abgelenkt, sie als »alternativlos« gezeichnet werden. Denn mit dem, was »naturgesetzlich und nicht zu ändern ist«, muss man sich abfinden, dem kann man sich nur beugen oder unterwerfen. »Werden die Verhältnisse so wahrgenommen, dann hat es wirklich keinen Sinn, sich aufzulehnen, einen Konflikt einzugehen. Denn gegen wen soll rebelliert werden? Der Mythos wendet sich gegen ein wissenschaftliches Weltbild, das ja einschließt, die Wirklichkeit verändern zu wollen, statt sich mit ihr passiv abzufinden. An seine Stelle soll ein magisches Weltbild treten, bei dem allgemeingültige Regeln von Ursache und Wirkung ignoriert werden. Der politische Mythos will zur Irrationalität erziehen.«

Seine rhetorische Frage im Untertitel des Buches - »Halten Ruhe und Ordnung die Gesellschaft zusammen?« - beantwortet Herbert Schui unmissverständlich: Ruhe und Ordnung sollen Macht und Herrschaft stabilisieren und jeglichen Widerstand einschränken. Die Gesellschaft jedoch und der dringend benötigte Fortschritt und Wandel werden gefährdet.

Herbert Schui: Politische Mythen & elitäre Menschenfeindlichkeit. Halten Ruhe und Ordnung die Gesellschaft zusammen? VSA Verlag, Hamburg. 128 S., br., 12,80 €.

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