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Hatuns Tod ist kein Einzelschicksal

Gedenken zum 10. Todestag der ermordeten Deutsch-Türkin / 460 Zwangsverheiratungen 2013

  • Josephine Schulz
  • Lesedauer: 4 Min.
Am Samstag gedachten zahlreiche Politiker und Frauenrechtsorganisationen der vor zehn Jahren ermordeten Hatun Sürücü.

Ein Symbol für den Mut ein selbstbestimmtes Leben zu führen. So nennt Integrations- und Frauensenatorin Dilek Kolat (SPD) Hatun Sürücü. Ein Symbol aber auch für das Leid und die Gewalt, die Frauen noch immer widerfährt. Jedes Jahr am 7. Februar wird eine Bushaltestelle in Berlin Tempelhof zur Gedenkstätte und zum Ort der Mahnung. Hier wurde vor zehn Jahren Hatun Sürücü getötet. 23 Jahre war die junge Mutter alt, als ihr der eigene Bruder dreimal in den Kopf schoss. »Eine kaltblütige Tat mit Hinrichtungscharakter« nannte der Richter das Verbrechen damals.

Die Integrationssenatorin legte am Gedenkstein einen Kranz nieder, auch Angelika Schöttler (SPD) Bezirksbürgermeisterin von Tempelhof-Schöneberg, Renate Künast und zahlreiche Bürger gedachten dem Verbrechen. »Symbolische Rituale sind wichtig, aber dabei darf es nicht bleiben«, mahnte Schöttler. Man müsse noch mehr tun, um den Opfern zu helfen. Partizipation und Bildung seien der Schlüssel für eine erfolgreiche Integration. Hatuns Tod ist kein Einzelschicksal. Das wissen insbesondere viele der Anwesenden, die sich in Berlin für Gleichberechtigung und Selbstbestimmung engagieren.

»Wenn wir ihrer gedenken, dann richten wir zugleich den Blick auf die Situation zahlreicher anderer junger Frauen, die zerrissen sind zwischen der Liebe zu ihren Familien und sozialem Zwang und Gewalt«, heißt es von den »Heroes«. Die Heroes sind Streetworker, eine Gruppe junger Männer, die meisten mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund. Sie arbeiten vor allem mit jugendlichen Männern. In Workshops animieren sie sie, ihre Rolle, familieninterne Machtstrukturen und Normen zu hinterfragen.

Monika Michell vom Berliner Arbeitskreis (AK) gegen Zwangsverheiratung fällt ein ernüchterndes Urteil. Seit dem Tod von Hatun Sürücü habe sich kaum etwas geändert. 460 Zwangsverheiratungen hätten 2013 nach eigenen Berechnungen stattgefunden. Betroffen sind nicht alleine Frauen. Auch Homosexuelle erleiden durch erzwungene Partnerschaften enorme physische und psychische Gewalt. »Ihnen bleiben Wünsche verwehrt, die uns banal erscheinen«, so Michel, »akzeptiert zu werden wie sie sind, sich ihren Partner frei aussuchen zu dürfen.«

Es sind Schicksale, die meist im Dunkeln bleiben. Zwar sind Zwangsverheiratungen in Deutschland gesetzlich verboten; aber nur solche, die auch vor dem Standesamt durchgeführt werden. Die Praxis sieht anders aus. Junge Frauen werden in ihren religiösen Gemeinden verheiratet oder zur Hochzeit ins Ausland gebracht. So auch bei Hatun Sürücü. Mit 16 Jahren wurde sie in der Türkei mit ihrem Cousin verheiratet, bekam einen Sohn von ihm. Wenig später trennte sie sich, legte das Kopftuch ab und zog in eine eigene Wohnung. Als der Bruder ihrem Leben ein Ende setzte, stand sie kurz vor dem Abschluss ihrer Lehre als Elektroinstallateurin.

Nach neun Jahren in Haft ist der Bruder nun wieder frei und in die Türkei ausgewiesen worden. Dort lebt er zusammen mit weiteren Geschwistern der Familie Sürücü. Zwei der Brüder werden noch immer mit internationalem Haftbefehl gesucht. Auf seiner Facebookseite lässt der Mörder erahnen, dass sich die Einstellungen des Mannes kaum geändert haben. Alle Frauen würden im Bett Schläge verlangen, schreibt er. Sein Kommentar zu den Charlie Hebdo-Opfern: »Ihr Tod ist das Schicksal der Ungläubigen.«

Der AK gegen Zwangsverheiratung fordert, das Gesetz gegen erzwungene Eheschließung zu erweitern und auch informelle Formen unter Strafe zu stellen. Außerdem fehlt das Geld für ausreichende Präventionsarbeit, Beratung und Krisenwohnungen.

Dilek Kolat möchte vor allem bei Kindern und Jugendlichen ansetzen: »Was der Prediger in der Al-Nur-Moschee gepredigt hat, ist grauenvoll.« Man wisse nicht, wie viele solcher Fälle unbemerkt blieben. »Jugendliche gehen in die Moscheen und hören sich das an. So entstehen Werte«, meint Kolat. Sie rief daher islamische Verbände dazu auf, diese Diskussion in ihren Gemeinden zu führen und wachsam zu sein. Kolat warnte aber auch vor zu einfachen Zuschreibungen: »Gewalt an Frauen kommt in allen kulturellen Kreisen, in allen sozialen Schichten vor.«

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