Die meisten Pappnasen waren gar nicht dabei

Peter-Michael Diestel, der letzte DDR-Innenminister, über die Wende, die Unrechtsstaat-Diskussion und die ausgleichende Frau Merkel

  • Lesedauer: 18 Min.

Es scheint, in den letzten Wochen ist alles schon gesagt worden, was man über die deutsche Einheit wissen muss. Schreiben wir's in die Schulbücher, dann ist es für die Ewigkeit im gesellschaftlichen Bewusstsein. Einverstanden?
Keineswegs. Mir ist zu viel verklärt worden. Überlegenheit des westlichen Systems? Preisgabe durch Moskau? Gorbatschow ist am 40. Jahrestag in die DDR gekommen, um mit Honecker einen Bruderkuss auszutauschen. Es gab nicht die Absicht, den Sozialismus abzuschaffen, es gab nicht die Absicht, der DDR zu erklären, dass sie jetzt die deutsche Einheit machen muss. Nein, die Ostdeutschen haben gesagt, wir müssen dieses System infrage stellen. Wenn also etwas in die Geschichtsbücher geschrieben werden soll, dann das: Wir, die Bürger der DDR – und nicht Bohley und Lengsfeld, sondern letztlich alle – haben dieses System von innen heraus abgeworfen.

Ich war damals in Rumänien. Dort wurde vorgeführt, wie es hätte auch laufen können. Höchst blutig... Hätte es sich nicht gehört, in die offiziellen Jubiläumsgesänge auch eine Strophe für jene einzubauen, die ihre Kalaschnikows nicht gegen das Volk eingesetzt haben?
Ja. Die meisten der »Sieger« sind schlechte Sieger. Wenn die einen Kerzen in der Hand halten und beten und die anderen haben die Maschinenpistolen und Kanonen und setzen sie nicht ein, dann muss man ganz eindeutig sagen: Wir alle sind den Frieden diesen Leuten schuldig. Diese Leute haben den Frieden verursacht, nicht wir mit den Kerzen. Doch die politisch Andersdenkenden hat man weitgehend vergessen. Mehr noch: Mir sitzt dieser strapazierte Begriff vom »Unrechtsstaat DDR« so was von quer. Wir haben mit diesem Unrechtsstaat eine so aberwitzige Diskussion, die einfach nur peinlich ist. Unrechtsstaaten erkennt man daran und nur daran, dass sie das wichtigste Menschenrecht missachten, das Menschenrecht auf Leben. Der Irak-Krieg ist zum Beispiel durch einen Unrechtsstaat angezettelt worden. Unrecht ist, Menschen den Kopf abzuschneiden. Unrecht ist, andere Länder zu überfallen. Unrecht ist, wenn Menschen im eigenen Land ein Grundgesetz haben und die Verfassung mittels staatlicher Strukturen systematisch gebrochen wird. Wie hier in Deutschland über die Geheimdienste, die sich an systematischen, rechtswidrigen Ausspionierungen der eigenen Bürger beteiligen.

Peter-Michael Diestel

- geboren 1952 in Prora (Rügen);
- Berufsausbildung mit Abitur; 
Facharbeiter für Rinderzucht;
- Jurastudium in Leipzig; aus 
politischen Gründen nicht als Rechtsanwalt zugelassen;
- 1978-1989 Leiter der Rechtsabteilung einer Agrar-Industrie-Vereinigung; 1986 Promotion;
- Dezember 1989 Mitbegründer der Christlich-Sozialen Partei Deutschlands (CSPD) und im Januar 1990 der Deutschen Sozialen Union (DSU);
- 1990 DSU-Generalsekretär, 
Abgeordneter der Volkskammer, stellvertretender Ministerpräsident und Minister des Innern der DDR;
- Juni 1990 Austritt aus der DSU wegen deren »Rechtsruck«;
- August 1990 Aufnahme in die CDU;
- seit Oktober Abgeordneter des 
Brandenburgischen Landtags, dort bis 1992 Vorsitzender der CDU-Fraktion;
- zeitweise Präsident des Fußballclubs Hansa Rostock;
- seit 1993 führt er eine Gruppe von 
Anwaltskanzleien;
- wohnt in dem kleinen Ort Zieslow in Mecklenburg.

Mit Peter-Michael Diestel sprach 
René Heilig.

Peter-Michael Diestel im ND-
Interview am 6. August 1990:

Man kann nicht Geschichte verdrängen. Wenn man den wahnsinnigen Prozess der Ignoranz, der 
Verdrängung weiterführt, dann sind wir einfach 
vaterlands- und geschichts-lose Gesellen in einem 
geeinten Deutschland. Ich meine, für uns sind die Folgen des Krieges im Prinzip erst im November 1989 beendet worden. Den Wandel vom November '89 haben nicht einzelne 
politische Kreise, sondern den hat das ganze Volk gewollt. Ich sage es immer wieder: Nicht Gräben 
zwischen den Menschen soll man aufreißen in 
unserem desolaten Land, sondern das Gemeinsame suchen.

 

Unrecht ist Hunger, Unrecht ist keine Bildung.
Richtig. Mit dem Begriff »Unrecht« kann man ein Staatensystem nicht beschreiben.

Recht ist eine Zielmarke, da will man hin? Recht und Gerechtigkeit...
Richtig.

Wer sagt, er ist schon angekommen, lügt?
Ja. Und vergessen wir nicht, die West-CDU hat sich in Wendezeiten sogar mit dem »Unrechtsstaat« vereinigt, indem sie die ostdeutsche CDU und die Bauernpartei, beides feste Bestandteile des »Unrechtsstaates«, aufgenommen hat. Die FDP hat sich mit dem »Unrechtsstaat« vereinigt, indem sie einen festen Bestandteil des weltanschaulich-ideologischen Unterdrückungskomplexes, nämlich die LDPD, NDPD, aufgenommen hat.

Vorsicht, Herr Diestel. Das Eis wird dünn, Sie sind überzeugtes CDU-Mitglied.
Aber das sind historische Tatsachen. Übrigens müssen wir uns an die eigene Nase fassen. Auch jetzt werden Grundrechte der Bürger mit Hilfe staatlicher Institutionen verletzt. Stichwort Geheimdienste. Die begehen millionenfache Rechtsverletzung. Versuchen wir es also mal ehrlich: Wenn, dann war die DDR ein Unrechtsstaat wie alle anderen auch. Das Gerede über die DDR hat aber einen anderen Zweck. Es soll die Menschen ducken. Denn so soll den Menschen klar gemacht werden: Schaut mal an, liebe Freunde, ihr hättet mit eurem Intellekt, mit eurem Verstand erkennen müssen, dass die DDR ein Unrechtsstaat war. Also: Heilig, wo ist dein Ausreiseantrag? Diestel, wo ist dein Ausreiseantrag? Wo ist eure Systemfeindlichkeit?! Sie sind ja von einem linken Blatt, also möchte ich mein Gift auch in diese Richtung spritzen.

Nur zu. Unsere Leser können denken...
Es kotzt mich an, wenn die LINKEN, die jetzt den ersten Ministerpräsidenten stellen in Thüringen, um diesen stellen zu können, ganz massiv in das eigene Nest scheißen und sagen: Jawohl, wir sind ein Unrechtsstaat gewesen, die DDR war ein Unrechtsstaat. Ohne gleichzeitig zu sagen, wir unterscheiden uns im Unrecht von den anderen Staaten überhaupt nicht. Kein Zweifel: In der DDR gab es eine krasse Missachtung der Rechtsordnung. So etwas gibt es heute auch. Sogar das Kanzlerinnen-Telefon wird abgehört und alle sagen: Oh, wie peinlich. Nein, das ist eine Straftat. Da kann man nicht zur Tagesordnung übergehen.

Zurück zu den LINKEN bitte.
Deren Verhalten ist für mich eine große substanzielle Enttäuschung. Ich hatte nie gedacht, dass die so weit gehen und ihre eigene Herkunft, die sie ja eigentlich immer - ich sage mal konstruktiv-kritisch – betrachtet haben, jetzt unkritisch über Bord werfen. Das ist eigentlich traurig.
Aber wissen Sie, was das Schöne daran ist? Die Parteien, die annehmen, dass der Wähler dumm ist, dass der einfache Mensch dumm ist, die werden aus der politischen Verantwortung rausgeschmissen. Beispiel FDP. Die hat eine Beliebigkeitspolitik gemacht, die ist auf jede »politische Hure« drauf gesprungen. Und jetzt ist es auch bei der LINKEN so. Schauen Sie nach Brandenburg, keine Partei hat so viel verloren wie die LINKEN. Nicht nur an Prozentsatz, auch objektiv so viele Wähler. Woher kommt das? Hieß es nicht, wenn die Wahlbeteiligung niedrig ist, haben die Stammwähler der LINKEN das Sagen? Jetzt hatten wir die geringste Wahlbeteiligung und die LINKE hat verloren. Warum? Weil sie nicht ehrlich ist, weil sie mit tragischen Figuren nur eines sagt: Wir wollen an der Macht bleiben, wir wollen mit der SPD weiter regieren. Die LINKEN sagen nicht, wofür sie stehen und wogegen. Und der Wähler hat begriffen: Die vertreten mich ja gar nicht mehr. Und hat dann andere gewählt. Ich sehe das mit traurigen Augen, denn die LINKE ist immer noch die Partei meiner Freunde. Nehmen Sie es mir nicht übel, die LINKE ist die bürgerlichste aller Parteien geworden. Die Visionen sind denen ausgegangen. Sie machen den allergrößten Polit-Spagat. Dass die anderen lügen von früh bis spät, ist völlig klar... Aber die?! Alles geht nur noch von hier bis zum nächsten Wahltermin.

Ich gebe Ihnen Recht, lebenswerte Visionen sind wie Goldstaub. Vieles definiert sich nur gegen etwas.
Dabei hatte und hat diese Partei so wichtige, integre Persönlichkeiten: Einige kannte und kenne ich sehr gut: Heinz Vietze, Michael Schumann, Lothar Bisky, Gregor Gysi, André Brie und viele alte. Dazu Wissenschaftler wie Professor Klein. Die LINKEN waren personell mit am stärksten aufgestellt. Weitaus stärker besetzt, als die Sozialdemokraten. Das hat sich leider erledigt.

Leben Sie nicht ein bisschen sehr in der Geschichte?
Ohne die geht es nicht in die Zukunft. Verzeihen Sie, aber ich komme noch einmal auf den »Unrechtsstaat« zurück. Ich habe mich wie viele Tausende zu einem Land bekannt, das aus dem größten Unrecht heraus entstanden ist, das die Welt je gesehen hat. Es gibt kein größeres Unrecht, als den Holocaust und das Dritte Reich. Daraus sind die DDR und die BRD hervorgegangen. Das kann kein Unrecht sein! Es kann nur Recht sein, dass im Ergebnis des 8. Mai 1945 auch in der sowjetischen Hemisphäre ein neuer Staat entstanden ist. Wenn man jetzt die DDR »Unrechtsstaat« nennt, dann ist sie genau so Unrecht wie die Diktatur davor. Dann macht man im Grunde eins: Man verniedlicht, verharmlost das Dritte Reich. Ich warne davor. Nicht einmal im Ansatz darf der Eindruck entstehen, dass man Auschwitz verharmlost, indem man Diktaturen gleichsetzt. Und deswegen ist diese Unrechtsstaats-Diskussion eine völlig falsche politische, weltanschauliche und historische Diskussion. Die sie uns im Sinne der Systemfrage aufzwingen wollen um zu sagen: Das Schlimmste sind die Kommunisten gewesen, weil die das Eigentum infrage gestellt haben.

Im ersten Interview, um das ich Sie als frisch gebackenen DDR-Innenminister bat, ging es darum, ob Diestel nicht auch vom MfS untergeschoben war. Sie haben damals gelacht und gesagt, dass Sie für den israelischen Mossad und den sowjetischen KGB arbeiten... Bekommen Sie Ihr Gehalt noch immer in Rubeln? Das muss bitter sein.
Russland - traurig, was sich da abspielt. Vor allem in der deutschen Politik gegenüber Russland. Die ist peinlich, ist erbärmlich, ist historisch und auch politisch falsch. Ich glaube, dass bei der Betrachtung der politischen Verhältnisse in Russland ein gravierender Riss durch die deutsche Gesellschaft geht. Große Teile der deutschen Wirtschaft halten die deutsche Position für falsch. Die Masse der Ostdeutschen ebenso. Ich sehe eine gewisse konstruktive Zögerlichkeit bei den Sozialdemokraten, wo wohl Gerhard Schröder, Steinmeier und andere eine relativ abwartende Politik betreiben.

Wie ist Diestels Position?
Wissen Sie, schon Bismarck hat als einer der großen deutschen politischen Köpfe und Außenpolitiker gesagt: Wenn die Achse Paris-Berlin-Moskau stimmt, dann ist der Frieden und der Wohlstand in Europa garantiert. Wenn die USA nicht eigene politische Interessen nach Kiew gebracht hätten, wäre die Ukraine heute noch ein normales Land. Janukowitsch, der mir nicht sympathisch ist, ist demokratisch gewählt. Nur die Wahl hat dem Westen nicht gefallen. Jetzt sind in der Tat dort Faschisten und alle möglichen skurrilen und kruden politischen Strömungen am Werk. Und wir? Wir setzen wieder deutlich auf das falsche Pferd. Wenn man jetzt sagt, die Ukraine ist immer schon ukrainisch gewesen, dann stimmt das nicht und man negiert den russischen Teil in der Geschichte dieses Landes. Und ich will schon gar nicht dafür plädieren, dass die Russen sich das wieder holen, was sie ihr Eigen nennen. Ganz im Gegenteil. Aber wenn in weiten Gebieten der Ukraine nun über 50 Prozent Russen leben, dann haben auch diese Russen so wie die Kosovo-Albaner in Serbien und alle anderen das Recht, ihre Geschicke selber zu bestimmen. Was ist da nun völkerrechtswidrig?! Ich halte es für völlig legitim. Schauen Sie mal, im Kosovo hat ja nur das Parlament abgestimmt über die Selbstständigkeit. Auf der Krim ist ein Referendum gemacht worden. Das bekommt natürlich keinen demokratischen Schönheitspreis nach völkerrechtlichen Gesichtspunkten. Wo war das Völkerrecht, als der Irak überfallen wurde? Wo ist das Völkerrecht bei den vielen vielen westlichen Eingriffen in Nordafrika.

Aber das Töten in der Ukraine muss doch durch politische Konfliktlösungen gestoppt werden. Was steht am Ende?
Das Land wird zerfallen. In einen östlichen Teil, der russisch ist, und in einen ohne die EU-Mitgliedschaft nicht lebensfähigen westlichen Teil.

Meinen Sie, Angela Merkel werden jetzt die Ohren klingen, weil CDU-Mitglied Diestel hier Dinge ablässt, die geradezu parteirausschmissfähig sind?
Denken ist nicht strafbar – auch in der CDU nicht. Wissen Sie, es denken ja viele Leute so. Und es wäre gut, wenn in der CDU wirklich vorgedacht werden würde. Aber das geschieht nicht. Wir sind ja heute dafür, wo wir gestern dagegen waren. Es ist eine beliebige, der Tagespolitik untergeordnete Politik. Es gibt auch bei uns keine Persönlichkeiten mehr. Gucken Sie sich die traurigen Gesichter an, die Frau Merkel zusehends um sich schart. Ich bin gerne in der CDU, sie ist für mich eine bürgerliche Alternative. Aber wenn ich jetzt sehe, wie meine CDU hilflos agiert, weil in Dresden und anderenorts Menschen demonstrieren. Ich habe für diese Leute auch nicht viel Verständnis. Schon weil ich durch einige Reisen mitgekriegt habe, dass Menschen mit verschiedener nationaler Herkunft gut zusammenleben können.

Wo macht Diestel jetzt Politik – außer gerade an diesem keineswegs runden Tisch in Zislow?
Diese Frage wird mir oft gestellt. Ich bin 62 Jahre alt. Wenn das Vaterland in Not ist, dann stelle ich mich wieder an, dann bin ich wieder da und verlasse mein gemütliches Sofa.

Welchen Hintergrund würden Sie für eine programmatische Diskussion denn aufstellen?
Ich bin Christ, ich bin kein Pazifist, aber ein friedliebender Mensch und ich weigere mich, mich in einer Partei zu engagieren, in der all dieses, was zwar programmatisch festgelegt ist, tagespolitisch über den Haufen geworfen wird. Ich wünsche mir, dass sich die Strenggläubigen in meiner Partei – und ich halte den Begriff »strenggläubig« nicht für falsch – also dass die streng an eine gewisse christliche, wertkonservative stabile Programmatik Glaubenden, sich nicht von diesem Glauben abbringen lassen. Zur Klarstellung: Ich denke nicht an Positionen am rechten Rand, Richtung DVU, NPD oder so. Da ist wirklich eine hygienische Grenze. Aber wenn man diesen wertkonservativen Gedanken wieder aufnehmen kann, zu dem auch nationales Denken gehört, kein nationalistisches, sondern nationales Denken. Ich bin stolz auf Goethe, Schiller, Lessing usw., so wie ich mich auch schäme für Auschwitz. Das ist alles mein Erbe, das ist alles meine Geschichte. Nicht meine eigene persönliche, aber die meiner Vorfahren. Ich kann mir nicht die Humanisten aussuchen und das Dritte Reich außen vor lassen. Das ist also völlig ausgeschlossen. Und wenn man in meiner Partei wieder weltanschauliche Positionen vertritt, die auch die meinen sind, dann würde ich mich auch wieder einmischen.

Aber leider – gucken Sie sich die Figuren an, die hier in Mecklenburg-Vorpommern oder in Brandenburg in der CDU sind. In der Brandenburger CDU, könnte ich wetten, kennen Sie gar keinen.

Ich müsste vermutlich rasch googeln...
Da sehen Sie mal!

Haben Sie einen Pfarrer, mit dem Sie über solche Dinge reden?
Einen Pfarrer? Ja.

Gehen Sie in die Kirche?
Ja.

Fällt mir schwer, den Diestel demütig, quasi auf den Knien zu sehen.
Nee, auf Knien nicht, aber Demut und Knien im Glauben sind Haltungen, die ich anstrebe.

Der Luther ist Ihnen auch gemäßer. Diestel ist wieder verheiratet?
Ja, ich habe am 29. Mai eine Potsdamer Zahnärztin geheiratet. Gregor Gysi war mein Trauzeuge, Lothar de Maizière war mein Trauzeuge, Wolfgang Kohlhaase war mit da und alle haben tolle Reden gehalten, und versucht, mich auf den Weg der Tugend zurückzuführen. Nein, wo waren wir stehen geblieben?

Bei den Figuren, die keiner kennt, die ich googeln müsste und Ihrem Bedarf an geistlichen wie geistigen Gesprächen.
Also ich sage mal so: Ich habe eine tiefe abgeschlossene Überzeugung zum christlichen Glauben, die ist abgeschlossen, unverrückbar. Da bin ich also in den schlimmsten Stunden meines Lebens gut aufgehoben. Der Weg zu Gott hat mir geholfen, tiefe Schluchten zu überwinden. Als mir ein Kind gestorben ist, als mir eine Ehe kaputt gegangen ist, ohne dass ich das irgendwie geahnt hätte. Oder als in den Nachrichten berichtet wurde: Diestel war KGB-Offizier. Das sind Dinge, wo sie dann einfach die Hände falten und sagen müssen: Vater, hilf mir hier raus aus diesem Loch.

Und der Vater hilft?
Der hat mir geholfen. Der hat Spaß an meinem Dasein, der hat ja auch Spaß an Ihnen, an den Gottlosen. So lange sie sich anständig benehmen. Also ich bin mir sicher, Herr Heilig, sie sind dem christlichen Glauben viel näher, als sie denken.


Wir sprechen über den Versuch von Menschlichkeit?
Über Menschlichkeit, ja.

Wie ich mich der nähere, das ist auch eine sehr persönliche Angelegenheit.
Absolut.

Und deswegen habe ich auch hohen Respekt vor vielen Kirchenleuten und schäme mich ein bisschen, dass wir in der DDR sie nur als Werkzeug gebraucht haben.
Ja, aber die DDR-Führung, auch die Staatssicherheit haben natürlich die Wirkung der Kirche nie richtig erfasst, nie verinnerlicht, weil sie ihr Wesen nicht begriffen haben. Auch wenn viele führende Kirchenvertreter Kontakt zur Staatssicherheit hatten, waren sie Männer der Kirche und sie haben in einer Diktatur das gemacht, was für die Kirche gut war.

Sie weisen auf Leute, die ausgleichend zwischen den Fronten sein wollten?
Wenn man die DDR am Thema Stasi und IM festmacht, dann ist das einfach falsch. Aber damals ließ es sich mit dem Stasi-Thema so gut ablenken von der SED. Und die hauptamtlichen Stasi-Leute verschwanden hinter den IM. Und die kleinen Furze auf der untersten Basis, die blieben im Regen. Keiner fragte nach deren Motiven, das konnten weltanschauliche sein, die wie gesagt nicht vorwerfbar sind, das konnte Korrumpiertheit sein. Kein Geheimdienst kann ohne IM-Strukturen arbeiten. Ohne den Vergleich anzustrengen, merke ich bisweilen an, dass der Hitlergegner und Christ Dietrich Bonhoeffer IM des Sicherheitsdienstes von Reinhard Heydrich war. Bonhoeffer ist für mich einer der ehrenwertesten Männer. Robert Havemann war IM der Staatssicherheit. Möglicherweise war der auch ehrenwert, das kann ich nicht so bewerten. Herr Gauck hat ein ganz enges Verhältnis zur Staatssicherheit gehabt. Ein ganz enges Verhältnis. Die Staatssicherheit hat ihn außerordentlich geschätzt, hat sich mit ihm ständig unterhalten. Deswegen hatte er auch in der Diktatur eine andere Position als andere Bürger und Bürgerinnen und trotzdem ist er heute unser Bundespräsident. Aber jedes Land hat den Präsidenten, den es verdient.

Peter-Michael Diestel geht es allem Anschein nach nicht schlecht, oder?
Nein. Ich bin ja fleißig.

Wen vertreten Sie juristisch? Es hieß einmal, Sie seien der Anwalt für Stasi-Mitarbeiter.
Also diese Verfahren, die Sie ansprechen, die mit politischer Berührung, habe ich aus einer inneren Überzeugung gemacht, weil ich der Auffassung bin, dass man mit einem großen Teil dieses Personenkreises nach der Wende falsch und absprachewidrig umgegangen ist.
Diese Verfahren waren für mich...

Ehrensache?
Ja, Ehrensache, weil jeder ein Recht auf Verteidigung hat. Wissen Sie, es ist doch so: Der liebe Gott hat die Strolche gleichmäßig verteilt, bei den Wessis und bei den Ossis, bei den IM's und bei den Nicht-IM's, bei Pastoren und bei Atheisten... Heute vertrete ich Unternehmer, Vereine usw. Ich arbeite in einer stark besetzten, guten Anwaltsboutique.

Mit Kanzleien in Potsdam und in Mecklenburg und zahlreichen Kooperationsbüros.
Und hier in Zislow arbeiten mehrere Anwälte. Die Art und Weise, wie wir mit dem Recht und den Konflikten umgehen, spricht viele an, und davon können wir gut leben. Wobei ich immer sage: Das Geld ist im Grunde vergegenständlichte Freiheit. Wenn man kein Geld hat, ist man nicht frei. Wenn man zu viel hat, ist man auch nicht frei. So aber kann ich auch mit Ihnen reden, wie ich das will, auch wenn das – wie mancher meinen mag – politisch nicht zweckmäßig ist.

Diestel kann man den Strom nicht abdrehen, weil er die Rechnung bezahlt?
Ich kann meine Vermögensbildung als wirtschaftlich abgeschlossen bezeichnen. Mit den üblichen Attacken, wie man sie heutzutage gegen politisch Unliebige reitet, kriegt man mich nicht mehr.

Sie leben also gesichert und gern in dem neuen Deutschland, das vor 25 Jahren begann?
Ich kann und ich möchte in einer Bundesrepublik Deutschland leben, die im europäischen System fest verankert ist, die aber ihre Eigenständigkeit behält, die das hässliche Bild des großen reichen Onkels in der EU irgendwann verliert. Ich möchte in einem kulturellen Staat leben, der nicht ferngelenkt ist, weder von Washington noch von Moskau, sondern sich gleichberechtigt in der Gemeinschaft der Staaten bewegt. Und ich möchte einfach, dass Meinungspluralismus diese Republik wieder reicher macht.

Gehen Sie noch zum FC Hansa Rostock, um zu heulen?
Nein, überhaupt nicht. Als Präsident habe ich mal so eine Auszeichnung als erfolgreicher Bundesliga-Präsident gekriegt, weil wir innerhalb von kurzer Zeit diesen Verein saniert haben und ihn von der 2. in die 1. Bundesliga geführt haben. Hansa Rostock ist in Ostdeutschland der Verein, der am tiefsten in seiner Region verwurzelt ist.

Wenn es um Sport geht, dann reduziert sich Diestel auf seine Hanteln?
Auf meine Hanteln. Und: Ich bin begeisterter Jäger.

Wie viel bringen Sie denn noch hoch?
Im Bankdrücken so um 150, 160 Kilo, das ist mit 62 Jahren noch gut.

Ich rechne gerade in Zentner um...
...und kommen dabei auf über drei Zentner. Aber die Knochen tun dann weh und dieses Training ist wohl in meinem Alter nicht sinnvoll, macht mir aber Spaß. Ich mache jetzt mehr Kraftausdauer. Für mich ist das Hanteltraining früh am Morgen um sechs, halb sieben wichtig. Da überlege ich mir, was der Tag so bringen wird. Dann wird geduscht. Kalt, dann schmeckt mir das Frühstück besser.

Was war – um neudeutsch zureden – das Geilste als Minister?
Den Begriff geil verwende ich nicht. Ich bin ja wie auch DDR-Ministerpräsident de Maiziére und viele andere mit großer Zufälligkeit in die Politik gekommen. Sie fragten nach dem Wichtigsten und Schönsten? Dass ich an zweiter Stelle im Staat an der Verwirklichung der deutschen Einheit teilhaben durfte. Und das Überraschende ist für mich dabei gewesen, wie klug, wie einsichtig, wie konstruktiv Menschen an meiner Seite, die einen anderen weltanschaulichen Hintergrund als ich hatten, daran mitgewirkt haben: viele Genossen, Juristen, Militär- und Polizeiangehörige, Zoll. Obwohl sie wussten: Gleich ist Feierabend. Die Friedlichkeit des Einigungsprozesses ist das Schönste, was wir überhaupt erleben durften.

Na ja. Womöglich verklärt sich da auch etwas im Laufe der Zeit.
Moment. Die meisten Pappnasen in der Politik, die heute darüber reden, waren nicht dabei. Wohl aber Angela Merkel. Die war damals bei uns stellvertretende Regierungssprecherin. Vielleicht hat sie das damals Erlebte so ausgleichend gemacht. Ich denke da an den zentralen Runden Tisch, an das grundsätzliche Konsensverhalten, diese auf Frieden und auf persönliche Wertschätzung des Anderen beruhende Gestaltung von Politik, die wir damals praktiziert haben zwischen 1989 und 1990.


Wie lange werden Sie noch Anwalt bleiben – immer vorausgesetzt, Sie bleiben politischen Ämtern weiter fern?
Ich werde wohl noch fünf, sechs, sieben, acht Jahre machen, wenn der liebe Gott mich lässt. Der hat ja auch seine Pläne mit mir, so ein »Kaderentwicklungsprogramm«. Vielleicht steht da ja, Diestel wird abberufen am... Ich habe mal vorgehabt, Kunstgeschichte zu studieren. Wäre was auf die alten Tage. Irgendwann. Später.

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