Zum Krieg verdammt

Die Dokumentation »Censored Voices« und andere Beiträge aus dem Panorama-Programm der Berlinale

  • Hans-Günther Dicks
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein Familienvater in Norwegen, der gerne ein Aussteiger wäre. Ein Autodieb in Palästina, der das falsche Auto klaut. Ein Blick auf »Deutschland im Herbst« aus französischer Sicht. Die Abenteuer junger Drogenkuriere in Mexico. Der Alltag junger Leute in einem sozial gespaltenen Südafrika. Ein Krimi um einen Mord im vom Erdbeben zerstörten Haiti. Das Programm der diesjährigen Panorama-Sektion der Berlinale ist bunt bis zur Konturlosigkeit, sieht man ab von den Filmen zu schwul-lesbischen Themen, die hier traditionell recht zahlreich sind und stets besonders gnädige Aufnahme finden - was uns nun z.B. »Mariposa« beschert, ein unausgegorenes Pseudo-Experiment des früheren »Teddy«-Gewinners Marco Berger.

Doch es gibt auch manches, für das sich das Schlangestehen am Ticketschalter lohnt, und oft geht es dabei um Politik. Eine von den neuen Konsummöglichkeiten verführte reiche Jugend in Johannesburg, für die Mandelas Kampf Geschichte ist, führt uns Sibs Shongwe-La Mer in »Necktie Youth« vor. Der Reiz von Jean-Gabriel Périots RAF-Dokumentation »Une jeunesse allemande« liegt weniger in der gar nicht so neutralen Sicht aus unserem Nachbarland, sondern vielmehr in der Fülle an spannendem Material, das seine umfassende Recherche erbracht hat. Der Haitianer Raoul Peck, der schon mehrfach Panorama-Gast war, befasst sich mit unerfreulichen Nebenwirkungen der humanitären Hilfe durch europäische NGOs. Mit guten Absichten, aber wenig Kenntnissen über ihr Zielland und reichlich unüberwundenem Kolonialherren-Gehabe kommen die »Helfer« ins Land, machen sich in feinen Villen breit und bringen die überkommenen Sozialstrukturen durcheinander, bis es zum »Meurtre à Pacot« (»Mord in Pacot«) kommt. Leider gibt Peck die feine Ironie, mit der er die Geschichte erzählt, gegen Ende weitgehend auf zu Gunsten von billigen Genremustern und überdeutlicher Sozialkritik.

Am 5. Juni 1967 begann mit Luftschlägen gegen ägyptische Flugplätze Israels Krieg gegen drei seiner als Bedrohung angesehenen Nachbarstaaten, der sogenannte Sechs-Tage-Krieg, als dessen Ergebnis Israel sein Territorium verdreifachte. Das zuvor von der Propaganda beiderseits in kräftigen Farben gemalte Bedrohungsbild ließ den raschen Sieg umso strahlender erscheinen, und die aus dem Krieg heimkehrenden Soldaten wurden wie Nationalhelden gefeiert. Helden, die sich oft gar nicht als Helden fühlten, wie nun die Regisseurin Mor Loushy in ihrem Dokumentarfilm »Censored Voices« eindrucksvoll belegt. Die zensierten Stimmen gehören nämlich Soldaten und Offizieren der siegreichen Armee, die mit keineswegs euphorischen Gefühlen ihre Fronterlebnisse schildern. Ihre erschütternden Aussagen, von Amos Oz und Avraham Shapira gleich nach dem Krieg auf Tonbänder aufgenommen, waren so brisant, dass die Armee nur 30 Prozent der Bänder freigab - bis heute.

Loushys Dilemma: Tonbänder, bebildert mit Archivmaterial, sind noch kein Film. Sie fand eine brillante Lösung: Sie holte die noch lebenden Zeitzeugen vor ihr Tonbandgerät, spielte ihnen ihre früheren Aussagen vor - und erntete Gesichter, deren oft mühsam unterdrückte Mimik Bände spricht. Gesichter voll stiller Scham, andere, die unbeteiligt erscheinen wollen, und solche, in denen Abwehrpläne zu reifen scheinen, so als wollten sie ihre eigenen Worte nach fast 50 Jahren auskratzen aus den Magnetbändern. Sie starren stumm auf die sich drehenden Spulen, und wenn sich doch einmal eine Gemütsregung ins Sichtbare stiehlt, wird sie rasch wieder eingefangen. Ort und Zeit der Aufnahmen sind genau protokolliert, ihre Echtheit scheint so unangreifbar, dass ihre Beschlagnahme der Armee wohl als der letzte Ausweg erschien - das Bild der kühnen Helden sollte nicht durch die Wahrheit besudelt werden.

Brisanter noch als in ihrer historischen Einordnung sind die Bänder im Kontext des aktuellen Palästina-Konflikts. Dass man »auch nach dem Waffenstillstand weiter geschossen« hat, habe »uns alle zu Mördern gemacht«, sagt einer. Das Radio verkündet stolz die neue Einheit Jerusalems, aber einer der Soldaten hat erkannt: »Die Art, wie wir die Gegner behandelten und erniedrigten, hat uns selbst erniedrigt.« Geradezu prophetisch die Vermutung: »Diesem Krieg werden weitere folgen. Sind wir dazu verdammt, immer nur zwischen Kriegen zu leben?« Und ein Reporter des US-Senders ABC resümiert vor einem Flüchtlingslager in der Wüste: »Das einzige, was hier wächst, ist die Saat der Rache.«

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