Eine Jahrhundertfigur

Swjatoslaw Richter zum 100. Geburtstag

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Er ist wahrlich eine Jahrhundertfigur. Eine, die es nicht erlaubt, vergöttert oder sonst wie in Marmor gegossen verewigt zu werden. Geheiligt sei sein Name. Nein. Umgedreht geht es bei ihm. Nicht nur der Künstler war eigenwillig, die ganze Person war es von Kopf bis zum Zeh. Richter, so sehr grandioser Spieler wie Kritiker des Kunstbetriebs, musste stets sein eigenes Selbst in vorgeschobene Position bringen, Gnade Gott, er musste wider alle Tücke anders sein, musste die Tasten zur Freude seiner Anhänger drücken und zugleich sich der Konvention entziehen.

Was nicht einfach ist. Wenn etwas Swjatoslaw Richters wahrer Natur entsprach, dann gerade dies. Er hasste es, sich einer Disziplin auszusetzen, die nicht von ihm selbst ausgeht, die der Schule zum Beispiel oder des kommerziellen Konzertbetriebs. Alles, was mit Schulpflicht, Erziehung etc. zusammenhing, lehnt er ab. Sein obligatorischer Schulbesuch in Odessa muss eine Tortur gewesen sein. Tonleiter zu üben oder etwa die Fingerübungen eines Czerny runterzuspielen, das tat er einfach nicht. Stattdessen erarbeitete er sich Stücke von Chopin, Beethoven, Schubert, Schumann etc., entdeckte deren Meisterschaft, entdeckte sich selber darüber. Ein hohes Merkvermögen, das Blatt - so sehr wie das Auswendigspielen waren seine Domäne. Bei einem der Hauskonzerte spielte der 16-Jährige beim Schumann-Konzert nicht nur den Klaviersolopart, sondern die Orchesterstimmen gleich mit. Wagner-Opern - er liebte sie - eroberte er sich mittels Durchspielen der Klavierauszüge.

Schon dem Knaben ging es darum, sich den musikalischen Kosmos selbsttätig zu erschließen. Als der Pianist in den frühen 1960er Jahren in der New Yorker Carnegie Hall und anderswo in den USA eine Serie von Konzerten gab, sagte er irgendwann: Schluss damit! Er fühlte sich ausgenutzt, überfordert, umzingelt von gewinngierigen Veranstaltern und einem oberflächlichen Publikum. Er verabscheue, so Richter, dieses Land mit Ausnahme »seiner Museen, seiner Orchester und seiner Cocktails«. Kurzum: Den beschworenen Gral der Großen hätte der Musiker lieber gesprengt, als sich in etwas gezwängt zu sehen, worin es an Marmorstatuen ohnehin wimmelt. In späten Jahren sagt er: »Man muss die Musik den Menschen schenken, die sie lieben. Ich will Gratis-Konzerte geben, das ist die Lösung.« Wer dagegen sein werde: »die Veranstalter. Sie mögen das nicht.« Utopie? Ja. Große.

Geboren wurde er am 20. März 1915 in Schitomir, das heute in der Ukraine liegt. Aber zu seiner Geburt gab es die Ukraine nicht, es war Russland, »Kleinrussland«. Wie mag das in der Ukraine heute bewertet werden? Richter - Sohn ihrer Nation, der ukrainischen?

Swjatoslaw Richter stammte aus einem qualifizierten musikalischen Milieu. Sein deutsch-polnischer Vater studierte in Wien Klavier und Komposition und war Kommilitone von Franz Schreker. Anlass für den jungen Richter, die Schreker-Oper »Der Ferne Klang« und andere Kompositionen des Wiener Meisters am Klavier durchzugehen. Seine Mutter Anna Pawlowna war Russin und stammte aus Grundbesitzerkreisen. Sie war eine Zeit lang Schülerin des am Odessaer Konservatorium im Fach Klavier unterrichtenden Vaters, der sie heiraten darf, obwohl er aus dem Bürgertum stammt. Odessa war der Wohnort der Familie. Dort ging Richter auf eine deutsche Schule. Er schwänzte öfter, wanderte durch die Stadt. Er wollte die Welt entdecken - auf eigene Faust. »Ich habe mehr durch Schulschwänzen gelernt als in der deutschen Schule.«

Der Jüngling war in Odessa auch musikalisch höchst mobil. Er betätigte sich als Klavierbegleiter im Seemannsheim der Stadt, begleitete dort Chöre und Opernszenen. Am Theater Odessa korrepetierte er das Ballett und den Opernchor. Dort durfte er Anfang der 1930er Jahre Aufführungen der Ernst Krenek-Oper »Johnny spielt auf« bewundern, die seinerzeit in Europa die Runde machte. Sie bliebt zwei Jahre auf dem Spielplan, bevor sie verboten wurde.

Die Familie blieb von Repressalien der Stalinzeit nicht verschont. Die Inszenatoren von »Johnny« galten plötzlich als »Volksfeinde« und Richters Vater, der vor der sogenannten Machtergreifung Hitlers in Deutschland Kindern deutscher Diplomaten Klavierstunden gab, wird später deswegen belangt und erschossen. Richter: »Ich habe in Odessa kein Konzert mehr gegeben. Nie!«

1937 ging Richter nach Moskau und studierte am dortigen Konservatorium bei dem berühmten Heinrich Neuhaus. Über seine umfangreiche Konzerttätigkeit hielt er nahezu zu allen Musikern von Rang - Solisten, Orchester, Dirigenten, Sängerinnen und Sänger, Komponisten - Kontakt. Erste Auftritte in der DDR datieren aus den Jahren 1962 und 1963 während der Berliner Festspiele. Er konzertierte mit Kurt Sanderling, den er hoch schätzte, begleitete Peter Schreier, musizierte mit der Staatskapelle Dresden.

Die Firma Yamaha stellte ihm irgendwann zwei große Konzertflügel zur Verfügung und Techniker für ihre Pflege. Die beiden Flügel begleiteten ihn überall hin. Erstaunlich: Als er 70 wurde und Moskau mit dem Auto und Instrument verließ, um über Wladiwostok bis nach Japan und zurück nach Moskau zu reisen, gab er an die 100 Konzerte in den entlegensten Städten und Marktflecken Sibiriens. Diese »Missionsreise« habe gezeigt, so der Richter-Biograf Bruno Monsaingeon, »dass er den schlichten Eifer der Zuhörer von Nowokusnezk, Kurgan, Krasnojarsk oder Irkutsk dem aufgeblähten Eifer der Carnegie Hall vorzog«.

Swjatoslaw Richter, der am 1. August 1997 in Moskau verstarb, wäre heute 100 geworden.

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