Bunte Antwort auf den Terror

Teilnehmer des Weltsozialforums aus 130 Ländern lassen sich nicht abschrecken

  • Andreas Behn, Tunis
  • Lesedauer: 6 Min.
In der tunesischen Hauptstadt beraten von Dienstag bis Samstag rund 70 000 Teilnehmer des Weltsozialforums über Alternativen der Weltentwicklung. Es ist eine Neuauflage von 2013.

Es ist keine demonstrative Polizeipräsenz, aber sie sind allerorten zu sehen. Schwer bewaffnete Uniformierte stehen fast überall im Zentrum von Tunis und in den Stadtvierteln, in denen es etwas zu schützen gibt. Zu Fuß wie im Auto stößt man immer wieder auf Straßen, die oft mit großzügig ausgerolltem Stacheldraht gesperrt sind. Vor allem Regierungsgebäude werden sogar militärisch geschützt, manchmal stehen Panzer und schwere Räumfahrzeuge davor.

Zu Beginn des Weltsozialforums (WSF) ist die Stimmung in der Gastgeberstadt gedämpft. Noch ist das Land von dem Attentat geschockt, bei dem am vergangenen Mittwoch mindestens 20 Touristen im Bardo-Museum erschossen wurden. Oft fragen die Leute auf der Straße, wie der Anschlag im Ausland kommentiert wird: »Was wird über uns berichtet, wie wird darauf reagiert?«

Die Organisatoren des Forums riefen dazu auf, trotz Warnungen oder Angst vor weiterer Gewalt nach Tunesien zu kommen. Die meisten Gruppen aus rund 130 Ländern erklärten, sie würden sich nicht abschrecken lassen. Für die Vertreter von sozialen Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen (NRO) ist das WSF vielmehr eine Antwort auf die Gewalttat: Ein großes, buntes und ideenreiches Sozialforum soll die tunesische Zivilgesellschaft in ihrem Kampf für Demokratie und Gewaltfreiheit unterstützen.

70 000 Menschen werden zum WSF erwartet. Ab dem heutigen Dienstag werden sie auf dem Campus der Universität El Manar an knapp 2000 Workshops, Seminaren und Diskussionsrunden teilnehmen. Die Ergebnisse der Debatten sollen bis zum Abschlusstag am Samstag thematisch gebündelt und als Handlungsoptionen der weltweiten Zivilgesellschaft veröffentlicht werden.

Riesige Plakate und Transparente hängen schon auf dem WSF-Gelände. Doch die Aktivisten vom Organisationskomitee und unzählige Freiwillige haben noch viel zu tun, um die Infrastruktur für all die Veranstaltungen zu schaffen.

Das viersprachige Programmheft ist über 80 Seiten dick und diesmal schon Tage vor dem Beginn des Forums gedruckt. »Wie beim letzten Mal wird alles rechtzeitig fertig sein«, sagt Karim im Anmeldungsbüro. Es habe lediglich einige Probleme bei der Einschreibung gegeben. »Zusätzliche Sicherheitsfragen und die damit verbundenen Abstimmungen mit Polizei und Regierung machen es nicht einfacher.«

Anders als sonst wird es beim zwölften Weltsozialforum in Tunis keine Auftaktdemonstration geben. Das Organisationskomitee beschloss, statt des für Dienstag geplanten Aufzugs zu einem kurzen Trauermarsch für die Opfer des Anschlags aufzurufen. Diese Entscheidung fiel im Einverständnis mit der Regierung, die sich Sorgen um die Sicherheit einer längeren Demonstration machte. Die WSF-Organisatoren verurteilten das Attentat in scharfen Worten und riefen dazu auf, »Terrorismus und religiösen Fanatismus gemeinsam zu bekämpfen«.

Die Formulierung des lokalen Komitees sorgte am Wochenende für einigen Streit hinter den Kulissen. Viele Aktivisten aus Europa und Lateinamerika kritisierten, dass der Umgang mit dem Wort »Terrorismus« der Rhetorik von Regierungen gleiche, die damit die Repression gegen soziale Bewegungen oder Oppositionelle rechtfertigten.

Zudem taucht in dieser Situation ein altes Problem in neuer Form auf: Schon immer versuchten die WSF-Organisatoren, jegliche Präsenz von politischen Parteien oder Regierungen zu verhindern. Das gelang auch in Brasilien mit der einst linken Arbeiterpartei oder mit Hugo Chávez in Venezuela nicht immer. Nun stellt sich die Frage, wie sichtbar die Regierung oder ihre Minister beim Trauermarsch sein werden. Klar ist nur, dass es vor allem eine tunesische Demonstration wird. Vermutlich werden auch zehntausende Einheimische daran teilnehmern vertreten sein.

Nicht unumstritten war die Entscheidung, das elfte WSF nach 2013 ein zweites Mal in Folge in Tunis zu veranstalten. Hauptargument dafür war, dass das letzte Forum einen regelrechten Schub von Vernetzungen, Aktivitäten und Neugründungen von politischen Gruppen in der Region ausgelöst hat. »Egal, wo du in Afrika hinschaust, überall gibt es Konflikte, alle infolge der westlichen Aneignungen«, erklärte Hamouda Soubhi, Sprecher eines Netzwerks von mediterranen NRO. Mittlerweile habe es auf dem Kontinent über 40 thematische Sozialforen gegeben. »Durch diese Dynamik sind in Bereichen wie Gesundheit, Erziehung oder Frauenpolitik viele Tabuthemen angegangen worden«, so Soubhi. Auch Stefanie Kron von der Rosa- Luxemburg-Stiftung sieht in »Tunis II« die Chance, »emanzipatorische Akteure in der Region weiter zu stärken«. Sie macht aber auf Kritikpunkte von 2013 aufmerksam: »Es gab eine sehr starke europäische Präsenz und teils paternalistische Dominanz.« Zudem wurden viele der früher stark präsenten Süd-Süd-Netzwerke sowie Akteure neuer sozialer Kämpfe vermisst.

Deutlich sichtbar ist, dass der geografische Ort auch in Tunis das Teilnehmerspektrum bestimmt. Die frühere Dominanz lateinamerikanischer und vor allem brasilianischer Aktivisten ist starker afrikanischer und europäischer Präsenz gewichen, keine zehn Prozent der Organisationen stammen heute noch aus Amerika. Doch möglich erscheint, dass auch Umbrüche beispielsweise in Brasilien bei dieser Entwicklung eine Rolle spielen. »Bei uns in Brasilien spüren viele, dass die Jugend innerhalb der WSF-Bewegung fehlt«, sagte Sheila Seccon vom Instituto Paulo Freire bei einem Vorbereitungsseminar in Salvador da Bahia. »Zahlreiche neue Gruppen und Bewegungen kritisieren von links die Regierung der Arbeiterpartei und halten den WSF-Prozess für zu institutionalisiert, für zu regierungsnah.« Dieses Problem, so Ceccon, kann sich durchaus auch dort wiederholen, wo das Forum jetzt veranstaltet wird.

Die Debatten im und um das WSF sind zahlreich, so auch vor Beginn der Veranstaltungen in Tunis. Ein Dauerbrenner ist bis heute ungelöst: Soll das Forum politisch mehr Stellung beziehen, um angesichts seiner zahlreichen Teilnehmer Druck ausüben zu können? Oder ist die Teilnahme aller Strömungen und das bunte Wirrwarr von selbst organisierten Veranstaltungen die eigentliche Qualität, die nicht verloren gehen darf? Einigkeit besteht nur darüber, dass die Weltsozialforen mit der Zeit an Bedeutung verlieren, nicht aber darüber, wie diese Tendenz verhindert werden kann.

Die meisten der Teilnehmer, die jetzt nach Tunis gefahren sind, stellen sich diese Frage nicht. Ihnen geht es um kreative Diskussionen und auch das Erlebnis, das solche Treffen vermitteln können. Ein Blick ins Programm ist spannend, die Themenpalette ist unglaublich vielfältig. Schon die Lage Tunesiens am Mittelmeer legt nahe, dass Migration einer der Schwerpunkte des Forums sein wird. Für Sophia Wirsching ist das ein Anlass, die europäische Flüchtlingspolitik zu hinterfragen. »Angesichts der aktuellen Diskussion um Asylzentren in Nordafrika ist es wichtig, Migrationspolitik menschenrechtskonform zu gestalten«, erklärt die Referentin für Migration und Entwicklung bei »Brot für die Welt«. Es dürfe nicht sein, dass die Verantwortung für die Menschen auf der Flucht durch solche Initiativen einfach aus Europa ausgelagert werde, ergänzt Wirsching.

Auch die Themen Menschenrechte, Demokratisierung nicht nur im arabischen Raum und Kritik an Freihandel und Neoliberalismus werden eine große Rolle spielen. Viele der gut 4000 teilnehmenden Organisationen prangern ein weltweites Rollback in Politik und Wirtschaft an und wollen neue Perspektiven entwickeln. Dabei geht es um alternative Ökonomie, Umweltschutz, Klimapolitik und Gegenmacht - entsprechend dem Motto des WSF, das dazu aufruft, »Würde, Rechte und Freiheit« zu verteidigen.

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