nd-aktuell.de / 27.03.2015 / Kultur / Seite 15

Witwenschütteln nach 4U9525

Netzwoche

Robert D. Meyer

Das »Witwenschütteln« gehört zu jenen Recherchemethoden, die in den Handbüchern für Journalisten - wenn überhaupt - unter der Rubrik schmutzige Tricks der Regenbogenpresse in der verbotenen Abteilung zu finden sind. Ein an sich bereits makabrer Begriff, dessen Methode darin besteht, nach einem Unglück die Hinterbliebenen der Opfer aufzusuchen und aus ihnen, nachdem man mit einem geheuchelten Händedruck sein Beileid ausdrückte, ein paar für das Ereignis an sich unwichtige Details über den Toten herauszuquetschen, tränenreiche Bilder zu produzieren und möglichst noch ein paar private Aufnahmen abzustauben mit der Lüge, man wolle als sehr verantwortungsbewusster Journalist das Andenken schließlich würdevoll in Ehren halten.

In Zeiten des Web 2.0 und sozialer Netzwerke bekommt das »Witwenschütteln« eine weitere moralisch bedenkliche Steigerung: Warum überhaupt bei den Hinterbliebenen nach Fotos fragen, wenn die Profile (insbesondere bei jüngeren Opfern) auf Facebook, Twitter und Co. ein überquellendes Füllhorn an Material mit Aussicht auf tränenreichen Aufmerksamkeits- und somit Auflagensteigerung bereithalten? Es soll sogar immer wieder Kollegen geben, die von Hinterbliebenen die Herausgabe privater Bilder erreichten, indem sie indirekt damit drohten, in den sozialen Medien würden sich schon Aufnahmen finden lassen, die am Ende aber vielleicht nicht wirklich im Sinne einer »angemessenen« Berichterstattung wären.

Was die Angemessenheit angeht, erlebt die Medienlandschaft seit dem Absturz von Flug 4U9525 am Mittwoch in vielfältiger Hinsicht einen erneuten moralischen Tiefschlag, der nicht einfach mit dem Argument ausgeräumt werden kann, die Öffentlichkeit habe schließlich ein gesteigertes Informationsinteresse an dem Unglück.

Dass es dieses Interesse gibt, mag durchaus zutreffen, man möchte seit Mittwoch allerdings viele Kollegen mit dem Pressekodex in den Händen zur Beichte schicken. Dem Presserat dürfte in den kommenden Wochen viele zusätzliche Arbeit erwarten, denn es gehört nicht zum berechtigten Informationsinteresse der Öffentlichkeit, den Hinterbliebenen auf dem Weg zum Düsseldorfer Flughafen mit einem Kamerateam aufzulauern (n-tv, N24) oder Mitschüler der toten Jugendlichen via Twitter (Focus Online, Huffington Post, Sat.1) für ein Interview zu gewinnen.

Solche Fälle haben sich seit dem Absturz mehrfach zugetragen und ließen sich problemlos um Dutzende Beispiele ergänzen, in denen Redaktionen, egal ob Print, TV, Online, jegliches Verantwortungsbewusstsein über Bord warfen, weil jedes Medium glaubt, in Fällen von Unglücken käme es darauf an, als erster Antworten zu finden, mögen sie sich auch rückblickend als genauso falsch herausstellen, wie das angeblich am Mittwoch aufgetauchte Video vom Absturz (Bild), dessen Echtheit erst erhebliche Risse bekam, nachdem es einmal quer durch das Mediendorf gereicht wurde.

Dessen Zentrum konzentriert sich dieser Tage auf die kleinen Gemeinden Le Vernet und Prads-Haute-Bléone im Südosten Frankreichs. Kamerateams europäischer Medien belagern jene Wiese, von der aus Bergungsmannschaften mit Helikoptern zum Unglücksort starten, wobei jedes Abheben und Landen dokumentarisch in den Äther geblasen wird, weil es insbesondere für TV-Stationen einem Schreckensszenario gleichkommt, wenn es keine Bilder zu senden gibt.

Doch einen Stillstand, ein Innehalten, um über die eigene Arbeit zu reflektieren, verbietet sich in Zeiten pervertierter digitaler Fließbandarbeit. Vielleicht wäre es dem Kollegen vom Inforadio eines öffentlich-rechtlichen Senders (Hessischer Rundfunk) in einem lichten Moment aufgefallen, dass eine Meldung über den fallenden Aktienkurs von Lufthansa wenige Stunden nach der Katastrophe sich weder für einen eilig abgesetzten Tweet noch für eine Nachrichtenmeldung (dpa, AFP) eignet. An der Börse findet sich in solchen Momenten weder der angebrachte Verstand noch weniger ein Herz, was wohl auch jenem Kollegen einer Nachrichtenagentur fehlte, der die Chronik mit den Flugzeugunglücken der letzten Jahre ankündigte, bei denen besonders viele Deutsche (noch einmal dpa) unter den Opfern waren. Eine Übersicht, die auch das »nd« verbreitete.

Dabei ist es dem Tod egal, ob sein nächstes Ziel in der Business-Class seinen letzten Atemzug aushauchte oder welcher Nationalität seine Opfer angehörten. Ohne jeden Zynismus ausgedrückt: Bei 72 toten Deutschen gibt es einen medialen Brennpunkt auf den Titelseiten, stürzen Hunderte anonyme Personen irgendwo im fernsten Hinterland ab, gibt es bestenfalls eine Meldung in den Panoramaspalten - an dieses Sterben haben wir uns schließlich gewöhnt. Nationalität geht hier vor Identität!

Steigern lässt sich diese zynische Form der selektiven Anteilnahme nur noch, wenn sich unter den Opfern Jugendliche oder kleine Kinder befinden, woraufhin sich fast niemand fragt, ob nicht der 45-jährige Sitznachbar des Schülers einen genauso sinnlosen Tod gestorben ist, wie alle 150 Menschen an Bord.

Es gehört wohl zu den makabersten Momenten eines Unglück, wenn über die Ticker und sozialen Medien Meldungen eintreffen, ob auch Deutsche unter den Opfern waren. Fangen solche Aussagen zudem mit den Worten »Zum Glück sind keine ...« an, dürfte wohl endgültig erwiesen sein, dass dumpfer Nationalismus auch im Jenseits eine Rolle spielt. Anders lassen sich kaum die Tausenden digitaler Beileidsbekundungen erklären, denn nicht selten stehen dabei eben nur jene Opfer im Fokus, die zu »uns« gehören, obwohl wir sie in den seltensten Fällen auch nur im Entferntesten kannten.

Unterbieten können dies letztlich nur noch findige Unternehmer, die aus der menschlichen Tragödie ein Geschäft machen oder mindestens positive Publicity ziehen. In einer Pressemitteilung eines IT-Unternehmens (Attingo Datenrettung GmbH) wird den Hinterbliebenen eine »kostenlose Datenrettung für geborgene Kameras und Laptops« angeboten, falls sich in den Trümmern eben solche Erinnerungen finden lassen. Ginge es hier um ehrliche altruistische Motive und nicht auch um Werbung in eigener Sache, es hätten sich auch leicht andere Wege finden lassen, seiner Selbstlosigkeit Ausdruck zu verleihen.