Ein Meister der Alternativen

Annotiert

  • Gerd Fesser
  • Lesedauer: 2 Min.

Nicht nur die Geschichtspublizistik, auch die Geschichtswissenschaft orientiert sich gern an runden Jubiläen. 2015 ist ein Bismarck-Jahr, und so sind zwei neue Biografien erschienen; weitere werden folgen.

Hans-Christof Kraus (Passau) und Christoph Nonn (Düsseldorf) sind produktive Historiker der mittleren Generation. Beide sehen Bismarck durchaus kritisch. Kraus benennt als drei innenpolitische »Fehlleistungen« den »Kulturkampf«, das Sozialistengesetz und die antipolnischen Germanisierungsbestrebungen. Bismarcks Feldzug gegen die Arbeiterbewegung sei »geradezu katastrophal gescheitert«. Die Sozialversicherungsgesetze hingegen rechnet Kraus zu dessen »bleibenden Leistungen«. Und auch die Konsolidierung des 1871 gegründeten Reiches sei »fraglos eine säkulare Leistung« gewesen. In Bismarcks Friedensvermittlung auf dem Berliner Kongresses von 1878 zur Beendigung der Balkankrise und seinem erfolgreichen Widerstand gegen die Präventivkriegspläne deutscher Militärs in den späten 1880er Jahren sieht Kraus »herausragende außenpolitische« Leistungen. Generell bescheinigt er dem Preußen, ein Meister darin gewesen zu sein, »in Alternativen zu denken«. Kraus würdigt Ernst Engelberg als bedeutenden Biografen Bismarcks und referiert ausführlich dessen Sicht auf den Konflikt zwischen dem Kanzler und seinem Sohn Herbert im Jahr 1881.

Nonn ordnet das Wirken Bismarcks stärker als Kraus in den Gang der europäischen Geschichte ein. Die neuerdings wieder aufgekommene Meinung, der Deutsche Bund hätte zu einem Nationalstaat weiterentwickelt werden können, teilt er nicht. Auch er betrachtet den »Kulturkampf« und das Sozialistengesetz als schwere Fehler. Die These des jüngst verstorbenen Historikers Hans-Ulrich Wehler, die Bismarcksche Reichsgründung habe eine Demokratisierung und Modernisierung Deutschlands verhindert, lehnt Nonn jedoch ab. Über die Vorgeschichte des Deutsch-Französischen Krieges behauptet er kühn: »Wenn es in Europa jemanden gab, der vor 1870 auf einen Krieg hinarbeitete, war es offensichtlich jedenfalls nicht Bismarck, sondern Napoleon III.« Sehr spekulativ ist auch seine These, bei einem Staatsstreich, wie Bismarck ihn 1890 ins Auge fasste, hätte dieser »wahrscheinlich« seine Distanz zur antisemitischen Bewegung aufgegeben.

Alles in allem überwiegt bei Kraus und Nonn die positive Sicht auf Bismarck. Im Bestreben, locker zu formulieren, unterlaufen Nonn mitunter flapsige Bemerkungen. Sprachlich ist das Buch von Kraus das gelungenere; die Person Bismarcks wirkt bei ihm plastischer.

Gerd Fesser

Hans-Christof Kraus: Bismarck. Größe - Grenzen - Leistungen. Klett-Cotta. 330 S., geb., 19,95 €. Christoph Nonn: Bismarck. Ein Preuße und sein Jahrhundert. C. H. Beck. 400 S., geb., 24,95 €.

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