Mitleid mit den Irren

Gegen Ulrich Wilken richtet sich nach den Blockupy-Protesten die öffentliche Empörung

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 4 Min.

Hätte Blockupy nicht Frankfurt am Main gewählt, wäre wohl Berlin Protestzentrum geworden. Das war eine offene Frage vor den ersten großen Aktionen im Mai 2012. Dann müsste jetzt nicht Ulrich Wilken die Tiraden der Landtagsabgeordneten über sich ergehen lassen, sondern womöglich Klaus Lederer, der Berliner Landesvorsitzende der Linkspartei. Wo die Linkspartei umstürzlerischer Pläne bezichtigt oder DDR-nostalgischer Anwandlungen verdächtigt werden kann, verliert die parlamentarische Gegenseite regelmäßig die Contenance. Im Bundestag wie in den Landesparlamenten. Durchaus nicht ohne Wirkung zu hinterlassen. Gute Presse ist der Partei längst ebenso wichtig wie gute Vorsätze.

Ulrich Wilken immerhin scheint schlechte Presse ganz gut wegzustecken. Seit den Krawallen am Vormittag des 18. März, mit denen die Blockupyproteste dieses Tages in Frankfurt am Main ihren Anfang nahmen, steht der Abgeordnete und Vizepräsident des Landtages im Kreuzfeuer von Medien und Politik. Als Anmelder der Demonstration mit 20 000 Teilnehmern am Nachmittag, die friedlich verlief und als Erfolg gelten könnte, wenn sie nicht von den Randaleberichten überschattet wäre, wird Wilken auch für die Gewaltausbrüche mitverantwortlich gemacht. Bisher ohne sichtbare Wirkung zu hinterlassen. Er habe breite Schultern, sagt er lakonisch.

Seine tatsächlich breiten Schultern scheinen überdies einen Schädel voller Eigensinn zu tragen. Am Dienstag wechseln die Kläger am Rednerpult sich ab, die Anklage bleibt immer gleich. Innenminister Peter Beuth von der CDU: »Herr Wilken, Sie können sich Ihrer Verantwortung nicht entledigen!« Nancy Faeser von der SPD, unter dem Beifall Wilkens: »Gewalt ist kein Ausdruck von Meinungsfreiheit, sondern eine Straftat.« Und dass er die »Wut und Empörung« von Mathias Wagner (Grüne) zu verantworten hat, muss auch noch gesagt werden und zwar wegen einer vorangegangenen Äußerung Wilkens, er habe Verständnis für die Wut und Empörung der Demonstranten.

Ein solches Verständnis geht den übrigen Fraktionen im Wiesbadener Landesparlament völlig ab. Wilken kann sie nicht besänftigen: »Das war pure Gewalt, das war menschenverachtend und ich war entsetzt, was ich gesehen und erlebt habe.« Und er fügt hinzu: »Ich weiß nicht, warum das missverständlich ist.« Ulrich Wilken spricht, als er an der Reihe ist, eindringlich, fast ein bisschen nachsichtig. Die Regeln zum Gebrauch parlamentarischer Sprachgewalt verlangen äußerste Zurückhaltung des Gescholtenen, will er nicht eine Bestätigung seiner eigenen Gewaltbereitschaft liefern. »Die Irren«, sagt er, die da »vandalierend durchs Frankfurter Ostend zogen«, seien »nicht von Blockupy, nicht von mir, nicht von meiner Partei organisiert« gewesen. »Warum sollten wir etwas planen, was uns selber schadet?«

Die Redner haben Distanzierung verlangt, und er distanziert sich. Sie haben verlangt, dass er die Gewalt verurteilt, und er tut es. Doch sie haben auch verlangt, dass er die Verantwortung übernehmen soll für die Ereignisse am Vormittag, und das tut er nicht. Sie wollen, dass er als Vizepräsident des Landtags zurücktritt. Wilken denkt nicht an Rücktritt.

Der 57-Jährige hat Parteien lange misstraut, wenn man davon absieht, dass er 1982 am Versuch einer Parteigründung beteiligt war. Zwei SPD-Abweichler im Bundestag gründeten die »Demokratischen Sozialisten« und Ulrich Wilken ihren hessischen Landesverband. Die Sache scheiterte. Die SPD fiel nach der sozialliberalen Koalition wieder in die Opposition und wurde angeblich wieder eine Partei demokratischer Sozialisten ... Der SPD beitreten wollte Wilken allerdings nie - daran scheiterte später eine angebotene Gewerkschaftskarriere bei der IG Metall.

Der Mann mit dem Ring im rechten Ohr pflegte ein unstetes Leben. Ein wenig Rebell, ein wenig nach großen Zielen gucken. Mit der Harley Davidson einmal um Australien. Solche Sachen. Aber auch der Wunsch nach Berufung, wo für andere ein Beruf reichen würde. Wilken, der als Junge im Ruhrgebiet noch Messdiener war, zum Studium der Sozialwissenschaft nach Frankfurt zog und damit eine erste politische Entscheidung in linker Wegrichtung traf - weil ihn die Frankfurter Schule interessierte -, trat im Jahr 2000 der PDS bei. 2003 wurde er Landesvorsitzender und blieb es bis zum letzten Jahr. Vom unsteten Leben ist eine 1100er BMW geblieben und die Vorliebe für Rockklubs wie das Spritzehaus oder die Batschkapp in Frankfurt. Ein Auto würde er wohl nur notgedrungen anschaffen - wie den gedeckten Anzug, den er nach den Landtagssitzungen gegen die Lederkluft tauscht.

Dreimal bereits gelang der Einzug der Partei in den Landtag, was nicht heißt, dass sie dort inzwischen gelitten wäre. Dass die LINKE nicht von ihren außerparlamentarischen Wurzeln lässt, auch dafür bezieht Wilken jetzt Prügel. Nichts ist missverständlich an seiner Distanzierung. Doch darum geht es nicht. Seit den Polizeiübergriffen gegen Blockupy im Juni 2013 hatte sich die Stimmung gewandelt, Deeskalation wurde gefordert. Das ist jetzt vermutlich vorbei. Der Ruf nach Umverteilung wird wieder gleichgesetzt mit dem nach Umsturz und Gewalt. »Unsere Anteilnahme gilt allen Verletzten«, sagt Wilkens. Nur die LINKE klatscht.

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