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Hirnverletzungen führten auf die Spur des »Über-Ich«

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 3 Min.

Das menschliche Gehirn ist ein unvorstellbar komplexes Gebilde, sowohl was seine Struktur als auch seine Funktion betrifft. Es verbietet sich daher, einzelne Charakterzüge oder Verhaltensweisen nach Art des Reduktionismus auf die Aktivität bestimmter Hirnregionen zurückzuführen. Dennoch gibt es Strukturen im Gehirn, die bei dem, was wir fühlen, denken oder tun, jeweils von besonderer Bedeutung sind.

Bemerkt haben Neurologen dies zuerst bei Menschen, bei denen infolge von Erkrankungen oder Verletzungen eine oder mehrere Hirnregionen geschädigt oder gar zerstört wurden. Ein viel zitiertes Beispiel ist der Fall des amerikanischen Vorarbeiters Phineas Gage, der 1848 bei Sprengarbeiten einen schweren Unfall erlitt. Dabei schoss eine rund einen Meter lange und drei Zentimeter dicke Eisenstange unterhalb des linken Wangenknochens in seinen Kopf und trat durch die Schädeldecke wieder aus. Wie durch ein Wunder überlebte Gage den Unfall. Er verlor weder sein Gedächtnis noch seine motorischen und intellektuellen Fähigkeiten. Nur eines wandelte sich: Aus dem vormals freundlichen und ausgeglichenen Mann wurde ein jähzorniger und unberechenbarer Mensch, der bei jeder Gelegenheit Streit mit anderen suchte.

Neurologen bezeichnen ein solches Krankheitsbild als Frontalhirnsyndrom. Tatsächlich hinterließ die Eisenstange, die Gages Kopf durchbohrt hatte, beträchtliche Verletzungen im vorderen Teil des Stirnhirns, namentlich im sogenannten orbitofrontalen Cortex (OFC), der unter anderem den aktiven Ausdruck emotionaler Reaktionen steuert. Menschen, bei denen früh eine schwere OFC-Schädigung vorliegt, sind in der Regel unfähig, sich in die Gefühlswelt anderer zu versetzen und ihr eigenes Verhalten sozial verträglich zu steuern. Sie haben weder ein Schuldbewusstsein, noch empfinden sie Gewissensbisse.

Wendet man diesen Befund positiv, heißt das: Im orbitofrontalen Cortex werden all jene Hirnprozesse koordiniert, die für die Ausprägung unserer moralischen und ethischen Vorstellungen von Bedeutung sind. Davon ausgehend schlägt der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth einen Bogen zu dem von Sigmund Freud einst eingeführten »Über-Ich«, welches gleichsam die sittliche Instanz in unserer Psyche repräsentiert. »Das Über-Ich Freuds lässt sich ohne große Schwierigkeiten im orbitofrontalen Cortex ansiedeln«, meint Roth, der damit keineswegs in Abrede stellt, dass auch andere Hirnareale maßgeblich an der (vor allem in der Kindheit und Jugend stattfindenden) Prägung unserer Persönlichkeit teilhaben. Denn das Gehirn besteht nicht aus unabhängigen Modulen. Im Gegenteil: Bei den meisten geistigen Tätigkeiten ist die Hirnaktivität über weite Bereiche des neuronalen Netzwerks verteilt. Andererseits deuten die modernen bildgebenden Verfahren darauf hin, dass bei der Bewältigung bestimmter Aufgaben manche Areale mehr, andere weniger oder kaum beansprucht werden. Das gilt offenkundig auch für das moralische Verhalten, dessen Steuerung in letzter Instanz dem orbitofrontalen Cortex obliegt, der seine »Entscheidungen« mit der Realität ebenso abgleicht wie mit anderen Hirnregionen. Martin Koch

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