Für Auschwitz-Täter galt ein Sonderrecht

Professor Cornelius Nestler über eine jahrzehntelang erfolgreiche Verschleppungstaktik der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main

  • Lesedauer: 5 Min.
Jahrzehnte lang ist nichts passiert. Jetzt steht ein Auschwitz-Täter vor Gericht. Wie konnte es dazu kommen, dass die Staatsanwaltschaft erst jetzt tätig wurde? Ein Gespräch mit Prof. Cornelius Nestler.

nd: Mir ist kein Wachmann aus irgendeinem KZ, zumal einem Vernichtungslager wie Auschwitz, bekannt, der so offen über seine »Tätigkeit« dort gesprochen hat wie Oskar Karl Otto Gröning. All die Jahre hatte er trotzdem nichts zu befürchten von der deutschen Justiz. Woher kommt jetzt dieser Umschwung? Nestler: Darauf gibt es leider keine kurze und einfache Antwort. Sicher ist, es hätte weitaus mehr geschehen können bei der juristischen Verfolgung der Wachmänner und SS-Angehörigen, die in Auschwitz Dienst taten. Für Auschwitz war, auch nach dem großen und bekannten Auschwitzprozess von 1963 bis 1965 in Frankfurt am Main, die dortige Staatsanwaltschaft zuständig. In der Behörde wusste man schon in den 70er Jahren, wer Gröning ist.

Alles andere sollte verwundern, denn es reichte, Zeitung zu lesen. Der »Spiegel« berichtete, die BBC interviewte ihn.
Genau. Doch mit unterschiedlichen Herangehensweisen wurde das Verfahren immer wieder eingestellt. Bereits 1985 hatte man das Verfahren gegen alle Angehörigen dieser so genannten Gefangeneneigentumsverwaltung eingestellt. Wobei schon diese Bezeichnung der SS-Verwaltung ein Skandal ist, schließlich besorgte die Truppe die Abwicklung des Vermögens der ermordeten Opfer.

Ist das nicht mindestens organisierter Diebstahl?
Nein, mehr. Das Ergebnis ist untechnisch gesehen Raubmord, aber die Vernichtung der Menschen stand ganz im Vordergrund. Damals, 1985, stellte die Frankfurter Staatsanwaltschaft also das Verfahren ein. Kein Tatverdacht, hieß es. Wegen Arbeitsüberlastung sollte die ausführliche Begründung nachgereicht werden. Das ist nie geschehen. Dann aber kam das Thema wieder hoch, als die Staatsanwaltschaft Köln 1990/91 gegen einen Herrn Kühnemann ermittelte. Das war ein Freund von Gröning. Die sind beide zusammen von der SS-Verwaltungsstelle in Dachau nach Auschwitz versetzt worden. Die Staatsanwaltschaft Köln schrieb in ihrer Anklage, dass das Räumen der Rampe vom Gepäck der nach Auschwitz gekarrten Juden, an dem Kühnemann offensichtlich beteiligt war, Beihilfe zum Massenmord gewesen sei. Diese Rechtsansicht wurde der Staatsanwaltschaft Frankfurt mitgeteilt. Und was macht Frankfurt? Dort war man aus formalen Gründen nicht mehr zuständig, gab alles an andere Staatsanwaltschaften ab. Dort passierte - genau: Nichts! Dann kam 2005 der Bericht im »Spiegel« über Gröning. Die für Naziverbrechen zuständige Zentralstelle in Ludwigsburg sagte vollkommen zurecht: Staatsanwaltschaft Frankfurt, guck dir das doch mal an, da ist jemand, der hat ziemlich ausführlich beschrieben, was er in Auschwitz gemacht hat. Was jetzt passierte, ist skandalös. Der Frankfurter »Ermittler« kommt zu dem Ergebnis, dass das, was Gröning gemacht hat, dass das, was auf der Rampe in Auschwitz passierte, eigentlich gar nicht notwendig war zur massenhaften Tötung der Gefangenen. Denn diejenigen, die noch kräftig waren und vielleicht hätten Widerstand leisten können, die wurden ja zur Arbeit selektiert und nicht gleich ermordet. Die anderen aber, die Schwachen, die fürs Gas Bestimmten, die Frauen und Kinder, die hätten sich sowieso nicht wehren und auch nicht fliehen können. Ergebnis: die Wachmannschaften waren eigentlich überflüssig. Daher auch keine Beihilfe.

So etwas schreibt ein deutscher Staatsanwalt in den 2000er Jahren auf?
Ja, 2005. Als ich das gelesen habe, bin ich fast vom Stuhl gefallen. Der SS-Wachsturmbann in Auschwitz als eine Art Ehrenspalier für die Juden, darauf muss man erst mal kommen.

Ist das Strafvereitelung im Amt oder Schlimmeres?
Ja, das ist schon fast ein Grenzfall. Lassen Sie mich bitte mal scheinbar abschweifen. Parallel zu diesem Vorgang fand in Hamburg das sogenannte Motassadeq-Verfahren statt. Der Mann wurde unter anderem deshalb wegen Beihilfe zu allen Anschlägen des 11. September verurteilt, weil er dreimal die Miete von Mohammed Atta, einem der Todespiloten, weiter auf dessen Konto in Hamburg gezahlt hat. Damit niemand dessen Verschwinden entdeckt. Merke: Miete zahlen für einen untergetauchten Terroristen ist Beihilfe, aber als SS-Mann auf der Auschwitzer Rampe dafür zu sorgen, dass alle ganz schnell in die Gaskammern kommen, das ist keine Beihilfe. Und die Maßstäbe, die die Justiz bei Motassadeq angelegt hatten, sind Standard in jedem Rauschgiftverfahren oder bei anderer normaler Kriminalität. Bei Tatbeteiligung in Auschwitz galt jahrzehntelang eine Art Sonderrecht.

Es heißt, erst nach dem Verfahren gegen den Trawniki-Mordhelfer Demjanjuk 2011 in München könne man jetzt auch gegen Leute wie Gröning vorgehen. Warum?
Ja, insbesondere der Leiter der Zen- tralstelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg behauptet das seit Jahren. Ich höre auch, es gebe eine neue Rechtslage. Das ist falsch. Das Demjanjuk-Verfahren brachte keine neue Rechtslage. Wir haben noch immer dasselbe Recht. Es gab auch früher eine Praxis der Gerichte, nach der jeder, der in einem Vernichtungslager an irgendeiner Stelle mitgewirkt hat, sich der Beihilfe schuldig gemacht hat. Beispiel: 1965 hat das Landgericht Hagen den Lohnbuchhalter aus dem Vernichtungslager Sobibor als Beihelfer eingestuft. Auch der Bundesgerichtshof hat gesagt: Es ist vollkommen unerheblich, wer genau wann was gemacht hat, denn die Aufgabe aller Angehörigen des Kommandos bestand ausschließlich darin, die Menschen dem Tode zuzuführen. Das Gericht im Frankfurter Auschwitzprozess hat es anders - und falsch - gemacht. Es hat den Massenmord in kleine Einzelteile zerlegt und damit die Strafverfolgung erschwert, weil nun nachzuweisen war, was jemand an einem bestimmten Tag genau gemacht hat. Aber auch wenn die Beweislage klar war, hat die Frankfurter Staatsanwaltschaft Mittel gefunden, das Verfahren einzustellen. So gab es etwa die Ermittlungen gegen die Angehörigen der Fahrbereitschaft von Auschwitz. Die Lkw-Fahrer haben Kranke und nicht mehr Gehfähige von der Rampe zu den Gaskammern gebracht. Das war ganz unstreitig Beihilfe zum Mord. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt stellte das Verfahren ein - wegen geringer Schuld.

Ihre Prognose für den Ausgang des aktuellen Verfahrens?
Kein Gericht lässt bei diesem Vorwurf eine Anklage zu, ohne sich sicher zu sein, dass es verurteilen wird, wenn sich der Anklagevorwurf in der Hauptverhandlung bestätigt.

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