40 Sekunden

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Schweigeminute ist ein symbolischer Akt. Keine beschwiegene Tat wird durch die Minute Schweigens rückgängig gemacht, kein beschwiegenes Opfer wieder gesund, gar lebendig. Dass in der Kakophonie unserer Zeit 60 Sekunden kollektiv Stille herrscht, dient einzig und allein einem: dem Schweigenden. Das ist zwar ziemlich bürgerliche Augenwischerei, aber menschlich - wenn man denn schweigen lässt. Günther Jauch ließ nicht.

Nicht mal das.

Eine knappe Stunde hatte er da schon übers permanente Flüchtlingssterben im Mittelmeer diskutieren lassen, das zwischen Abendbrot und Spielfilm immer nur dann kurz ins Gedächtnis der Wohlstandsgesellschaft poppt, wenn die Zahl der Ersoffenen gen Vierstelligkeit steigt. Ein Schweizer Rechtspopulist durfte seinen empathisch verbrämten Rassismus absondern, milder im Ton unterstützt von zwei Überfremdungsängstlichen aus CSU und einer Flüchtlingsheimverhinderungsinitiative, mühsam entlarvt vom glaubhaft empathischen Reporter Heribert Prantl. Es gab also Jauchs typische Talkshowkonstellation: viele Männer, meist von rechts, dazu ein Quotenquerulant von links plus Alibi-Betroffener fürs Mitgefühl, diesmal mit Kopftuch. Kopftuch hilft.

Doch dann kam einer auf die Bühne, der den Dampfplauderer von RTL im millionenteuren ARD-Außendienst aus der süffigen Betulichkeit lockte: Harald Höppner, ein Familienvater aus Brandenburg, der einen Fischkutter seetüchtig macht, um dem mörderischen Schleusersystem zwischen Afrika und Italien etwas Intaktes entgegenzusetzen. Er also forderte das Gasometer zur Schweigeminute auf. »Bei allem Verständnis«, wollte ihn Jauch gerade abwürgen, doch der Kameralaie setzte sich angesichts der jüngsten Katastrophe mit Brennpunkt-tauglichen 700 Toten durch und siehe da: Der Saal schwieg.

Bis auf Jauch, versteht sich, der die Stille seiner Quasselbude erst damit brach, sein aufgeregter Gast müsse nicht auf die Uhr schauen - und den Spuk dann abbrach. Nach 40 Sekunden. So wenig Zeit muss sein. Es war das jämmerliche Finale einer Talkshow, die der Verlogenheit deutscher Mitgefühlskultur ein neues Denkmal setzte. Natürlich steht es tief im Kernschatten jenes Monuments der Erregungsgesellschaft, die zuletzt 150 Opfer einer Flugzeugkatastrophe zum schlimmsten Unglück seit Menschengedenken stilisierte, was die Abertausend zeitgleich verreckten Armutsopfer weltweit noch weiter nach hinten in die Berichtsspalten drückte. Aber wie Jauchs Kombattanten aus der konservativen Wutbürger-PR das Drama auf allen Flüchtlingsrouten zur Angelegenheit der Fliehenden machten, das war schon aus besonders dreckigem Granit gehauen.

Schleuser, darauf kann sich der neoliberale Elitenvasall Roger Köppel, als Chefpropagandist der »Weltwoche« voll damit ausgelastet, Fremdenhass zu publizieren, mit einem Mann namens Haase einigen, der den Ausbau eines Flüchtlingsheims daheim in Bautzen aus purem Mitgefühl mit allen Entrechteten dieser Erde verhindern will - Schleuser also sind das Übel allen Fliehens weltweit. Da konnte Heribert Prantl im Auftrag der »Süddeutschen Zeitung« noch so maulen, Flucht habe ja auch irgendwie mit uns zu tun, dem Abfischen afrikanischer Küsten durch europäische Flotten etwa oder preiskriegerischer Subvention hiesiger Agrarprodukte, von Waffenlieferungen oder Rohstoffausbeutung zu schweigen: Wenn man biedere Geistesnazis à la Köppel so reden hört, meint man, man müsse den »Todeskanal« Mittelmeer nur so dicht machen, wie es seine Schweiz während des Nationalsozialismus für mittellose Juden tat. Dann - hoppla! - gäbe es statt Fluchtgründen nur noch Friede, Freude, Eierkuchen überall, toll!

Kein Wunder, dass der simpel gestrickte Jauch bei derart schlichten Lösungen mit Schweigeminuten fremdelt. Sonst hätte er ja gleich jemanden vom Fach zur Debatte einladen können, statt der üblichen Mehrheit konservativer Progressivitätsverweigerer, denen ein lampenfiebriger Flüchtling nebst dem tapferen Einzelkämpfer Prantl zum Fraß vorgesetzt werden.

Man möchte schreien angesichts dieses Biedermeierpopulismus. Schweigen lässt Jauch einen ja ohnehin nicht. Jan Freitag

Foto: nd/Screenshot

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