Vor siebzig Jahren begann die Befreiung

Am 21. April 1945 überschritt die Rote Armee die Berliner Stadtgrenze - doch das Morden der Nazis ging vorerst weiter

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 3 Min.
Die sowjetischen Truppen standen schon in Berlin, trotzdem ermordete die SS in den letzten Apriltagen 1945 einen 17-jährigen Deserteur in der Uhlandstraße, für den jetzt eine Gedenktafel errichtet wird.

Bereits früh am Morgen ertönten die Sirenen. An diesem 3. Februar 1945 erlebte Berlin den schwersten Luftangriff des ganzen Krieges. Amerikanische und britische Bomber warfen mehr als 2000 Bomben über der Innenstadt ab. Drei Millionen Menschen mussten in Luftschutzkellern und Bunkern untergebracht werden, 300 000 als »nicht-arisch« gebrandmarkte Zwangsarbeiter blieben dem Angriff schutzlos ausgeliefert und fanden teilweise in U-Bahn-Schächten eine notdürftige Zuflucht.

Das Leiden sollte aber noch lange nicht zu Ende sein, denn erst am 16. April begann die finale »Schlacht um die Seelower Höhen« im Osten Berlins. Fünf Tage später überschritt die 5. sowjetische Armee unter Generaloberst Nikolai Bersarin die Stadtgrenze. In den folgenden Tagen nahm die Rote Armee die damalige Reichshauptstadt aus allen Himmelsrichtungen entschieden in die Zange, um dem kriegerischen Treiben der Nazis ein Ende zu bereiten.

Krampfhaft versuchte die NS-Führung, die unvermeidliche Kapitulation zu verdrängen. Während die Feuerwehr mit dem Löschen kaum nachkam, hatte Hitler noch tags zuvor zu seinem 56. Geburtstag in trotzigem Realitätsverlust einigen Jugendlichen im Garten der Reichskanzlei das Eiserne Kreuz ans Revers geheftet. Am 24. April feuerte der »Völkische Beobachter« noch Durchhalteparolen in die demoralisierte Bevölkerung hinein: »Berlin kämpft unter dem Befehl des Führers!« Dass die Rote Armee da schon in Buckow, Rudow und Zehlendorf und zwei Tage später gar in Kreuzberg stand, vermeldete das Propagandablatt nicht.

Auch unzählige Menschenleben fielen den letzten brutalen Zuckungen des dem Untergang geweihten Nazi-Regimes zum Opfer. Ende April versteckte sich etwa ein 17-jähriger Dissident in einem Keller in der Berliner Straße zwischen Uhland- und Fechnerstraße. Viel ist über ihn nicht bekannt. Man weiß aber, dass ihn die SS aufspürte und mit einer Wäscheleine an der Laterne vor der Uhlandstraße 103 erhängte. Um den Hals musste er ein Schild tragen mit der Aufschrift: »Ich war zu feige, für Deutschland zu kämpfen.«

Bis in die 1950er Jahre hinein legten Anwohner an der Laterne jährlich Blumen nieder und erinnerten an den Mord. Mit einem beschrifteten Pappkarton, denn der erste Versuch einer regulären Gedenktafel wurde erst 1995 unternommen - und scheiterte. Der jüngste Versuch glückte, wenn auch nach langem Anlauf: Seit Sommer 2013 versuchte der Historiker Michael Roeder, eine Gedenktafel für den 17-Jährigen zu initiieren. In der Gedenktafelkommission unter Vorsitz von Judith Stückler (CDU) gab es aber Bedenken, weil der junge Mann eine Uniform der Waffen-SS getragen haben soll. Für Roeder reichte das nicht aus, um ein Gedenken zu verweigern, da sich aus seiner Sicht damals viele Jugendliche hinreißen ließen, der Waffen-SS beizutreten.

Letztlich hat die Kommission beschlossen, an diesem Freitag um 16 Uhr an der Kreuzung von Uhland- und Berliner Straße die Gedenktafel zu errichten und damit an alle zu erinnern, die sich der Teilnahme am Krieg verweigerten. Ohnehin werde in Berlin bislang zu wenig an hingerichtete Deserteure erinnert, erklärte Günter Hoppe von der »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten« (VVN-BDA) dem »nd«: »Da hat die Stadt erheblichen Nachholbedarf, der Gedenktafel an der Uhlandstraße sollten weitere folgen.« Mit Agenturen

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal