Experimente mit Mini-Atombomben?

Mutmaßlicher Unfall vor 20 Jahren in der Elbmarsch noch immer ungeklärt

Mit einem Aktionstag wollen Atomkraftgegner an diesem Dienstag in Marschacht im niedersächsischen Kreis Harburg an einen mutmaßlichen Atomunfall vor 20 Jahren und mit einer Schweigeminute an 18 Leukämieopfer in der Elbmarsch erinnern. Zu der Veranstaltung werden auch die Sängerin Nina Hagen und die Schauspielerin Eva-Maria Hagen erwartet, kündigte die Initiative »Bürger gegen Leukämie in der Elbmarsch« an.

Noch immer ist ungeklärt, was genau am 12. September 1986 im Atomforschungszentrum GKSS in Geesthacht am schleswig-holsteinischen Elbufer geschehen ist. Nach Angaben von Atomkraftgegnern gab es einen schweren kerntechnischen Unfall. Sie berufen sich auf Berichte von Augenzeugen, die damals »blaue und grüne Flammen« beobachteten, sowie einen am fraglichen Tag ausgelösten Strahlenalarm im Atomkraftwerk Krümmel, das unmittelbar neben dem GKSS steht.
Die Betreiber des Forschungszentrums und die schleswig-holsteinische Landesregierung haben mehrfach erklärt, dass es damals keinen Unfall in Geesthacht gegeben habe. Mehrere in jüngster Zeit ausgestrahlte Fernsehdokumentationen bestätigen allerdings die Darstellung der Umweltschützer - anders als die Feuerwehr Geesthacht: Alle Einsatzprotokolle von September 1986 seien bei einem Brand »im Aktenschrank der Feuerwache« vernichtet worden, hieß es.
Seit Anfang der 1990er Jahre sind in der Elmarsch 18 Kinder und junge Erwachsene an Blut-krebs erkrankt, vier Menschen starben infolge dieser Krankheit. Eine so hohe Leukämierate in einem begrenzten Umkreis gilt als weltweit einmalig. Atomkraftgegner und Wissenschaftler hatten lange Zeit Strahlung aus dem AKW Krümmel für die Erkrankungen verantwortlich gemacht. Doch nach und nach kamen immer mehr Fakten ans Tageslicht, die für einen Unfall bei der GKSS sprachen. »Seit Jahren finden Wissenschaftler Reste von Kernbrennstoff in Bodenproben in der Nähe der Geesthachter Atomanlagen«, sagt der niedersächsische SPD-Landtagsabgeordnete Uwe Harden, der gleichzeitig Sprecher der Initiative »Bürger gegen Leukämie in der Elbmarsch« ist. Zu den stärksten Indizien gehören Bodenproben mit radioaktiven Substanzen, die Ende 2004 rund um das AKW Krümmel und das Forschungszentrum entnommen und an der Minsker Sacharow-Universität von Experten analysiert wurden. Diese kamen zu dem Ergebnis, dass die erhöhten Plutonium- und Thoriumkonzentrationen in der Natur nicht vorkommen, sondern künstlich hergestellt worden sind.
Der Kieler Toxikologe Professor Otmar Wassermann äußerte schon früh den Verdacht, dass die in den Bodenproben enthaltenen Spalt- und Aktivierungsprodukte wie Plutonium und Americium von einem Unfall bei illegalen Versuchen herrühren. Art und Aufbau der entdeckten Kügelchen deuteten darauf hin, dass sie aus einer so genannten Hybridanlage stammen, bei der Kernreaktionen zur Energiefreisetzung genutzt werden. Im Klartext: Bei der GKSS wurde völkerrechtswidrig mit der Herstellung von Mini-Atombomben experimentiert.
Die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein haben in den vergangenen Jahren Experten-Kommissionen eingesetzt, um die Ursachen der Leukämiefälle zu untersuchen. Die Wissenschaftler kamen jedoch zu keinem Ergebnis. Sechs Fachleute der schleswig-holsteinischen Kommission, darunter der Vorsitzende Wassermann, legten ihre Ämter im November 2004 unter Protest nieder. Sie warfen der Kieler Landesregierung vor, sie bei ihren Nachforschungen nicht unterstützt zu haben.
Warum sich ein »Kartell des Schweigens« über den Unfall bildete, erklären Umweltschützer mit der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Ein halbes Jahr zuvor, am 26. April 1986, war ein Block des ukrainischen Kraftwerks explodiert. Das Eingeständnis eines Unfalls in Krümmel hätte der Atomlobby das Geschäft wohl auf Dauer verdorben.
Der Aktionstag beginnt heute um 16 Uhr in Marschacht am Elbdeich. Vorgesehen ist dabei auch ein Podiumsgespräch mit Wassermann, dem Berliner Physiker Sebastian Pflugbeil, der Physik-Professorin Inge Schmitz-Feuerhake sowie der früheren niedersächsischen Umweltministerin Monika Griefahn (SPD).
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