Wunsch und Wirklichkeit

Irène Némirovsky und ihr beeindruckender Roman »Jesabel«

Ein bedeutender Roman, der für seinen Weg nach Deutschland siebzig Jahre brauchte, ein Beispiel für die ewige Aktualität der großen Menschheitsthemen und für die kurze Halbwertzeit gesellschaftlicher Momentaufnahmen: Wir lesen »Jesabel« von Irène Némirovsky sowohl als Gegenwartsbuch zu dem Phänomen, dass Medien und Werbung heute um die Generation der Faltenträger immer größere Bogen schlagen, aber auch als fast schon historischen Roman über das großbürgerliche Milieu in England und Frankreich im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts. Das Buch handelt vom obsessiven Streben nach ewiger Jugend und jugendlicher Schönheit der Gladys Eysenach, einer steinreichen, jung verwitweten Beherrscherin aller Partys und Gesellschaften, die sie - beginnend in London kurz vor dem Ersten Weltkrieg bis in die dreißiger Jahre in Paris und an der Côte d'Azur - selbst gab oder besuchte. Sie genoss mit krankhafter Lust ihre weibliche Dominanz. Ihre erotische Macht, die sie über Männer ausübte, trat an Stelle des Eros selbst. Gladys will geliebt werden, selber lieben will sie nicht, kann sie wohl auch nicht. Das ist in der Literatur oft beschrieben worden: der Versuch, die Zeit aufzuhalten - und den Tod. Die Autorin ist 1903 in Kiew als Tochter eines wohlhabenden russischen Bankiers geboren, floh vor der Oktoberrevolution nach Frankreich, heiratete reich, schrieb bald auf Französisch und war ein Star der Pariser Literaturszene. Den Anfang ihres tragischen Endes - sie wurde nach der Besetzung Frankreichs durch deutsche Truppen als Jüdin nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet - hat sie selbst in dem im letzten Jahr auf Deutsch erschienenen großen politischen Verfolgungsroman »Suite Française« mit überwältigender Eindringlichkeit beschrieben. Der Umweg des Lesers über den Ernst ihres autobiografischen Romans lohnt sich: Er verdeutlicht, mit welch existenzieller Inbrunst »Jesabel« geschrieben ist und gelesen werden will: Eine Frau, die alles hat und die von aller Welt beneidet wird, kann den natürlichen Vorgang des Alterns nicht akzeptieren, lässt ihre eigene Tochter im Stich, die sie zur Großmutter macht. Sie tut alles, um diesen für sie existenzvernichtenden Umstand zu verheimlichen, verleugnet ihren Enkel, lässt in ihrer südamerikanischen Heimat ihre Geburtsurkunde fälschen und landet schließlich in einer Mordsache vor Gericht. Selbst hier werden das Geheimnis ihres Alters und der Hintergrund ihrer Tat nicht aufgedeckt - das hätte auch nichts mehr geändert. Ihr Opfer hatte allen Grund sie zu erpressen. Er nannte sie »Jesabel« in Anspielung auf die biblische Gestalt, die als phönizische Prinzessin durch Heirat Königin von Israel wurde und im »Buch der Könige« als besonders grausam und skrupellos geschildert wird. Racine hat ihr in »Athalies Traum« ein entsprechende Denkmal gesetzt. Irène Némirovsky schafft mit Gladys eine »Jesabel« ihrer Zeit. Sie differenziert die psychische Struktur ihrer Heldin sehr genau, unterscheidet zwischen weiblichem Narzissmus und letzten Endes unerfüllbarer Sehnsucht nach noch mehr Liebe. So wird eine tragische Gestalt aus der beneideten Schönheit. Den aus der Sicht eines wissenden Erzählers geschriebenen Roman hat Eva Moldenhauer einfühlsam übersetzt. Eine einleitende Gerichtszene aus dem Mordprozess gegen Gladys enthält lakonische Protokollauszüge, die glänzende Schlaglichter auf die nachfolgende Lebenserzählung von Glück und Tragik der Heldin werfen. Andeutungen erzeugen eine kultivierte Spannung, die die Autorin überraschend, aber nicht überrumpelnd auflöst. Es geht nicht um die Vereinnahmung eines Mordfalls durch die Literatur, sondern ausschließlich um Gladys, ihren Selbstbetrug. Beim Blick in den Spiegel versucht sie, nichts vom Ablauf der Zeit zu bemerken. Derweil rücken außerhalb des Spiegels die Zeiger der Biografien ihrer Lebensbegleiter und der Geschichte einfach weiter. Diese Verschränkung der Zeitempfindung meistert die Autorin stilistisch auf glänzende Weise. Die Wahrnehmungslücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit - ein li...

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