Lippen schweigen, 's flüstern Geigen

Festival »Vergessene Musik - Muzyka zapomniana« startet erstmals in Görlitz/Zgorzelec

  • Laura Naumburg
  • Lesedauer: 3 Min.
Vergessene Musik« soll vom Freitag bis zum Sonntag in Görlitz erklingen und weil die Stadt eine Grenzstadt ist, deren polnische Hälfte Zgorzelec heißt, geht es auch um »Muzyka zapomniana«. Das Festival ist ein Produkt der inzwischen gescheiterten Kulturhauptstadt-Bewerbung der Doppelstadt. Im zweijährigen Rhythmus soll jene Musik in das Gedächtnis der Zuhörer zurückgerufen werden, die Diktaturen des 20. Jahrhunderts verfemten, verfolgten und verboten. Der mit Abstand verheerendste Kulturbruch begann 1933; noch heute hat sich die europäische Musikkultur nur ein Bruchteil dessen zurückgeholt, was damals verloren ging. Es gibt verdienstvolle Initiativen, die sich wenigstens mit der Musik befassen, die Victor Ullmann, Pavel Haas, Gideon Klein, Hans Krasa im »Muster-KZ« Theresienstadt komponierten und aufführten. Der Musikwissenschaftler und Publizist Dr. Gerhard Müller, »Erfinder« und spiritus rector des Festivals, will bewusst nicht direkt an diese Arbeit anknüpfen. »Zuerst«, meint er, »verstummte nicht die heute »ernst« genannte Musik, sondern die heitere Leichtigkeit, der virtuose Witz, die Lebensfreude«. Jazz und Schlager, das Sentiment der französischen Chansons, die bissigen Couplets im Kabarett, das Wiener Lied und natürlich die osteuropäischen Klezmer-Klänge verschwanden mit ihren rassisch und politisch auf Leben und Tod verfolgten Schöpfern noch bevor Musikhochschulen und Konzertpodien verödeten. Diesem Gedanken folgt das Programm der drei Festival-Tage. Dabei wird einer Reihe von Künstlern gedacht, die seinerzeit phänomenale Leistungen boten, deren Lebensläufe Abenteuerromanen, tragischen wie glücklichen, gleichen und die kaum jemand kennt. Wer war Alma Rosé? 38 Jahre durfte die glanzvolle Geigerin alt werden bis sie 1944 in Auschwitz rätselhaft ums Leben kam. Sie war die Tochter des Konzertmeisters der Wiener Philharmoniker Arnold Rosé und eine Nichte Gustav Mahlers. Als Solistin und Kammermusikerin war sie eine europäische Größe, noch berühmter wurde sie mit ihren »Wiener Walzermädeln«, einem Johann-Strauß-Orchester aus jungen Frauen. Sie emigrierte, konzertierte jedoch von London aus auf dem Kontinent und wurde 1942 in Frankreich verhaftet. In Auschwitz leitete sie das dortige Lagerorchester, das vor allem heitere Weisen zu spielen hatte; unterhaltsam für die Bewacher, eine Insel des Lebens oder auch ein zynisches Teufelskonzert für die gequälten Insassen. Sie faszinierte ihre Peiniger so sehr, dass sie aus Auschwitz entlassen werden sollte. Ihr Abschiedsessen wurde zur Henkersmahlzeit. Sie starb an einer nie aufgeklärten Lebensmittelvergiftung. Alma Rosé ist das Abschlusskonzert des Festivals am 17. September, eine »Revue triste« von Gerhard Müller gewidmet. Der zweite Widmungsträger dieser Revue ist Fritz Löhner-Beda. Auch er ein Unbekannter, obwohl man sogar seine belanglosesten Texte bis heute kennt: »Was machst du mit dem Knie lieber Hans«, »Ausgerechnet Bananen«, »Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren« ... Fritz Löhner-Beda ist vor allem der Librettist Franz Lehárs. Einen Tag nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich wurde er verhaftet und im Dezember 1942 in Auschwitz von einem kriminellen Mithäftling erschlagen. Lehár hatte zwischen 1938 und 1942 keinen Finger für seinen Textdichter gerührt. Lehárs Melodie zu »Lippen schweigen, 's flüstern Geigen« bekommt so einen ganz besonderen Unterton. In der Revue soll sie erklingen. Der Jazz-Gitarrist Coco Schumann entkam den Nazis. Auch sein Leben verlief romanhaft von Nachtclub-Musiker in Berlin über Australien und die Theresienstädter »Ghetto-Swingers« aber die Geschichte seiner Verfolgung endete mit dem Schluss der Grimmschen Märchen. Man wird den 82-Jährigen ehemaligen Musizierpartner von Helmut Zacharias in Zgorzelec hören können. Zwei ambitionierte Liedprogramme zwischen Victor Ullmann und Gustav Mahler, französische Chansons mit der polnischen Sängerin Margaux Kier, Jazz, Klezmer-Musik, Operette: Görlitz will in drei Tagen ein vielfältiges Musikleben zeigen, das nicht gelebt werden durfte und trotzdem nicht totzukriegen war. Vom 15. bis zum 17. September in Görlitz/Zgorzelec. Informationen unter (03581) 750 201 22 und www.goerlitz2010.de
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