Meine Masterarbeit kostet 8000 Euro

Der Spagat zwischen wissenschaftlichem Anspruch und wissenschaftlicher Praxis

  • May Naomi Blank
  • Lesedauer: 3 Min.
Wie weit klafft die Lücke zwischen wissenschaftlichen Standards und wissenschaftlicher Praxis?

»Grundsatz Nummer 1: Eigenständigkeit ist das wichtigste Kriterium wissenschaftlicher Arbeiten.« Ich lerne die sieben Grundprinzipien wissenschaftlicher Praxis für eine Klausur. »Grundsatz Nummer 2: Zitate müssen unmissverständlich kenntlich gemacht werden.« Ein Kumpel setzt sich zu mir an den Tisch und lugt mir über die Schulter. »Grundsatz Nummer 3: Externe Einflüsse müssen offengelegt werden.« Er meint, er reiche demnächst dieselbe Hausarbeit für zwei verschiedene Seminare ein. »Grundsatz Nummer 4: Man darf Autoren keine falschen Aussagen zuschreiben.« Ich warne ihn, dass das auffliegen wird. »Grundsatz Nummer 5: Plagiate sind prüfungsrelevante Täuschungsversuche.« Er habe das schon mal gemacht, sagt er gelassen. »Grundsatz Nummer 6: Die Übernahme eigener Texte muss belegt werden.« Zudem würden auch unsere Profs sich dauernd selbst zitieren. »Grundsatz Nummer 7: Ghostwriting ist ein schwerwiegender Verstoß.« Wie solle man sonst mit dem Workload mitkommen, fragt er zum Schluss.

Hausarbeiten sind Schnäppchen

Nach diesem Gespräch bin ich durcheinander. Wie weit klafft die Lücke zwischen wissenschaftlichen Standards und wissenschaftlicher Praxis? Ich frage in meinem Freundeskreis nach und höre die wildesten Geschichten. Ein Bekannter hat sich für eine Hausarbeit in Japan eine historische Persönlichkeit ausgedacht, alle Quellenverweise fingiert. Hätten die DozentInnen einmal gegoogelt, wäre er sofort erwischt worden. Doch er blieb unentdeckt und bekam eine gute Note. Eine Freundin, die an der Uni arbeitet, meint, dass die JuniordozentInnen standardmäßig die Veröffentlichungen für die ProfessorInnen schreiben. Mein Bekanntenkreis sagt unisono: Überall wird geschummelt.

Ich stelle eine Anfrage bei einer Ghostwriting-Firma, denn jetzt bin ich neugierig. Für 8.000 Euro wird mir meine Masterarbeit geschrieben. Gegen Aufpreis kriege ich auch ein Exposé, das ich mit meinem Betreuer besprechen kann. Ich kann Quellen angeben, die genutzt werden sollen, oder die Arbeit in mehreren Häppchen erhalte. Diskretion sei garantiert, ein Plagiatscheck inklusive. Wie soll das je einer merken? Die Hausarbeiten kosten bloß 1.500 Euro, die reinsten Schnäppchen, aber für wen? Ich mache eine kurze Hochrechnung im Kopf. Wie viele Hausarbeiten habe ich in meinem bisherigen Studium geschrieben? Etwa zehn? Wenn deren Konzept wirklich wasserdicht ist, dann bedeutet das, dass jeder, der 20.000 Euro übrig hat, sich sämtliche Arbeiten für einen Bachelor kaufen kann. Praktisch? Unmoralisch? Wieso gibt es diese Dienste überhaupt und wer profitiert davon?

Die Fakten sind bekannt: Für Studierende wie Dozierende ist der Leistungszwang an der Uni enorm hoch. Durch den Publikationsdruck und die Bachelor-Master-Reform bleibt den Dozierenden kaum Raum für die Vermittlung wissenschaftlicher Prinzipien. Trotzdem sind die Noten für die ersten Hausarbeiten oft schon relevant für den Notendurchschnitt der Studis. Es herrscht auf allen Ebenen das Konkurrenzprinzip: Die Studierenden rangeln um Masterplätze, die ProfessorInnen um Drittmittel. Wer hier kein Autodidakt ist, für den ist Ghostwriting ein kostspieliger Ausweg aus der Misere. Die Kosten hierfür tragen nicht nur die Studierenden. Auch das Wissenschaftssystem zahlt, indem es an Glaubwürdigkeit verliert.

Der Widerspruch zwischen Anspruch und Realität kann nur durch Bildungs- und Betreuungsangebote überbrückt werden. »Siedelt die Ghostwriter-Büros an der Uni an!«, geht es mir durch den Kopf, während ich, ganz traditionell, ein Exposé für meine nächste Hausarbeit tippe.

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