Transformativer Kompromiss, neue Allianzen?

Über Sozialdemokratie und gesellschaftliche Linke in der dritten industriellen Revolution: Kurze Anmerkung zum neuesten Heft der NG/FH

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Frage, welche Folgen die fortschreitende Digitalisierung und die laufende Runde der Automatisierung auf die Arbeitswelt haben könnten, war zuletzt unter anderem hier Thema. Diskutiert wird über die »Economy of Tomorrow« auch in der sozialdemokratischen Zeitschrift »Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte« - in einem Schwerpunkt, der unter anderem Fragen nachgeht wie »Ist Sharing das neue Caring?« Und: Was heißt »Partei der Arbeitnehmer/innen« im 21. Jahrhundert?

Marc Saxer eröffnet die Debatte mit einem großen Rundumschlag: »Digitalisierung, Robotisierung und künstliche Intelligenz werden die Art, wie wir leben und arbeiten revolutionieren. Gentechnik und Nanotechnologie verändern den Menschen selbst. Die Revolution der Informationstechnologien hat vorgeführt, wie rasant disruptive Innovationen ganze Industrien umwälzen«, heißt es da. Saxer, derzeit Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Neu Dehli, sieht »drei zentrale Herausforderungen«, um die »große Transformation progressiv zu gestalten«.

Das ist einerseits auf die Sozialdemokratie gemünzt, es beschreibt andererseits aber einen Zugang zu einer Zukunftsbearbeitung, der für die jenseits der SPD nach Antworten suchende gesellschaftliche Linke nicht uninteressant sein sollte: »Um den Deutungskampf zu gewinnen, brauchen wir eine praktische Utopie und ein überzeugendes Narrativ, wie der Wandel gelingen kann. Um die notwendigen Pfadwechsel politisch durchzusetzen, muss eine breite gesellschaftliche Allianz mobilisiert werden. Schließlich brauchen wir neue Institutionen zur Organisierung des politischen Prozesses«, schreibt Saxer.

Erzählung, Bündnis, Organisierung - das sind drei Pfeiler, auf dem Gestaltung der letzten großen Transformation und die sozialdemokratische Zähmung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit in den (schon ein bisschen länger) vergangenen Jahrzehnten basierte. Saxer erinnert daran und warnt zugleich: »Heute fällt es der Sozialdemokratie schwer, die nächste große Transformation zu gestalten. Mit dem Proletariat ist ihr das historische Subjekt abhanden gekommen. Ihre Massenorganisationen, Parteien und Gewerkschaften sind Schöpfungen der zentralistischen, hierarchischen und standardisierten Industriegesellschaft. Ihre Vorstellung vom ,Politikmachen‘ – das Aushandeln standardisierter Normen, die durch die gesetzgebende Gewalt für universell erklärt werden – passt nicht mehr so recht zu der entstehenden Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen Geschwindigkeiten und konträren Lebenswelten. Dementsprechend passen auch die sozialdemokratischen Antworten auf die Probleme der Industriegesellschaft nicht mehr zu den Bedürfnissen einer pluralistischen, dezentralisierten, differenzierten Gesellschaft.«

Kurzum: »Um die Gesellschaften der dritten industriellen Revolution zu gestalten reichen die alten Formeln nicht mehr aus«, meint Saxer. Und das ist freilich nicht nur ein Problem, das für die sozialdemokratische Perspektive gilt. Richtig, der politische Fluchtpunkt bei Saxer ist die »Gute Gesellschaft«, ein Bezugsrahmen, der seit einigen Jahren in sozialdemokratischen Kreisen in der Diskussion war. 2009 zum Beispiel von Andrea Nahles und dem Labour-Abgeordneten Jon Cruddas als neues Narrativ und »Projekt der Demokratischen Linken« vorgeschlagen (mancher dachte damals, es wird daraus eine Art Nachfolger von »New Labour« und »Neue Mitte«). Es wird einen Grund haben, dass die Idee nicht richtig zündete.

Ebenso richtig aber auch: Die Feststellung, dass »die Kraft der alten Arbeiterbewegung nicht mehr« ausreiche, »um das Ringen um eine neue Ordnung zu entscheiden«, trifft auch demokratische Sozialisten und andere Linke links der SPD. Noch einmal Saxer: »Es müssen also neue gesellschaftliche Bündnisse geschlossen werden, um alle progressiven Kräfte zu bündeln. Allerdings haben gesellschaftliche Gruppen im Hier und Jetzt meist widerstrebende Interessen. Eine Koalition auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners wird nicht die Kraft aufbringen, das Ringen um die grundsätzlichen Weichenstellungen für sich zu entscheiden. Gebraucht wird ein transformativer Kompromiss, der den Grundstein für eine neue Gesellschaftsordnung legt.«

Von hieraus lassen sich Fäden ziehen zu den Überlegungen zu einer sozial-ökologischen Transformation (etwa im Umfeld der Rosa-Luxemburg-Stiftung) - aber ebenso auch zu einer weit radikaleren Debatte über gesellschaftliche Veränderung. Wie weit so ein »transformativer Kompromiss« gehen kann, ist keine Frage, die in Papieren beantwortet wird, sondern in den sozialen und politischen Auseinandersetzungen, also in der Praxis. Dort entscheidet sich auch, in welche Richtung und mit welcher Radikalität »eine breite gesellschaftliche Allianz mobilisiert werden« kann.

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