Spurensuche am Rande des Krieges

Der Schweizer Fotograf Meinrad Schade über sein Projekt »Krieg ohne Krieg«

  • Lesedauer: 9 Min.

Sie gehören zur europäischen Nachkriegsgeneration, die von politischer Stabilität und Wachstum profitiert hat. Darüber hinaus sind Sie in der Schweiz aufgewachsen, die in den beiden Weltkriegen ihre Neutralität bewahrt hat. Wie kommt es, dass Sie das Thema Krieg für sich entdeckt haben?

Das hat unter anderem mit meiner Familie zu tun. Mein Vater ist im Zweiten Weltkrieg aus Schlesien in die Schweiz geflüchtet. Und meine Mutter ist in Nürnberg aufgewachsen und musste von dort fliehen, weil ihre Wohnung zerbombt war. Von daher war das Thema Krieg zu Hause schon anders präsent als in einer klassischen Schweizer Familie. Dazu kommt das persönliche Erleben des Kalten Krieges. Als Kind war ich in den Ferien viel in Oberfranken an der ehemaligen Grenze zur DDR. Mich hat sehr beeindruckt, wandern zu gehen und plötzlich vor diesem Grenzzaun zu stehen.

Zur Person

Meinrad Schade, Jahrgang 1968, entschied sich im Jahr 1996 nach dem Ende seines Biologiestudiums die Leidenschaft für die Fotografie zum Beruf zu machen. Nach Kursen bei der Gruppe Autodidaktischer FotografInnen GAF und der Schweizer Journalistenschule MAZ arbeitete er als Pressefotograf einer Lokalzeitung, bevor er sich 2003 als Porträt- und Reportagefotograf selbstständig machte. Zwischen 2012 und 2015 unterrichtete er im renommierten Lehrgang »Redaktionelle Fotografie« an der Journalistenschule MAZ. Er gewann im Jahr 2011 den Hauptpreis des Swiss Photo Award in der Kategorie »Redaktionelle Fotografie«. Im Jahr 2013 erhielt er den Reportagepreis in der Kategorie Foto des Netzwerks für Osteuropaberichterstattung n-ost. Bis heute arbeitet er ausschließlich analog auf Farbfilm. Mit ihm sprach Felix Koltermann.

Was war dann der Auslöser, dass Sie Konflikt und Krieg zu einem Thema Ihrer fotografischen Auseinandersetzung gemacht haben?

Meine Frau und ich wollten ein Buchprojekt über Museen in der ehemaligen Sowjetunion machen. Angefangen haben wir in Kiew. Da stolpert man dann irgendwann auch über das Kriegsmuseum. Es ist das größte und beliebteste Museum in Kiew. Das Buchprojekt haben wir zwar nicht realisiert, aber aufgrund dieses Museumserlebnisses habe ich beschlossen, dass ich den 9. Mai mit eigenen Augen vor Ort sehen und erleben muss. Dafür bin ich dann nach Wolgograd gegangen. Dieses Erlebnis wie das Ende, oder besser der Sieg der Roten Armee über Hitlerdeutschland, gefeiert wird, hat mich sehr beeindruckt. Ich sag immer, dass man Dinge erleben muss, bis man sie einigermaßen fassen kann.

War von Anfang an klar, dass es ein langjähriges Projekt sein würde, oder hat sich das erst mit der Zeit entwickelt?

Ich weiß nicht mehr genau, wann der Moment war. Manchmal sind das fließende Übergänge. Es war irgendwann nach diesem Museumserlebnis. Vor allem am Anfang glaubt man oft nicht daran. Von daher ist das Buch jetzt ein schöner Moment. Viele Leute haben am Projekt gezweifelt, wenn ich davon erzählt habe. »Vor, nach, neben dem Krieg«, das haben viele nicht verstanden, auch Fotografenkollegen nicht. Jetzt habe ich das Gefühl, dass man eine ganz gute Idee vom Projekt bekommt. Das war am Anfang nicht so, da waren es vielmehr mehrere einzelne Geschichten. Da gab es die Geschichte zum 9. Mai oder die Atombombentestgeschichte. Aber dass das alles zusammenhängt, und dass man das alles zusammen spannend inszenieren kann, das war mir auch nicht immer klar. Aber es war meine Hoffnung.

Wie kam es zum Projekt- und Buchtitel »Krieg ohne Krieg«?

Das ist aus meinem flappsigen Spruch, dass ich Kriegsfotograf bin, ohne in den Krieg zu gehen, entstanden. Und aus dem heraus habe ich dann irgendwann in einer Arbeitsphase morgens um drei die Idee »Krieg ohne Krieg« gehabt. Das spielt mit diesem Zwischenzustand: Krieg ohne Krieg, was ist das eigentlich? Ist das Frieden oder nicht Frieden? Das beschreibt für mich in einer einfachen und gängigen Formel die Zwischenzustände, die ich suche.

Was ist der Grund dafür, dass Sie die klassischen Nachrichtenereignisse von Krieg und Gewalt außen vor lassen und sich dem Davor und Danach widmen?

Ich habe das Gefühl, dass dies ein Bereich ist, über den zu wenig berichtet wird. Dabei sage ich nicht, dass die Bilder aus dem Zentrum des Krieges unnötig oder unwichtig sind. Überhaupt nicht. Aber ich stelle sie aufgrund ihrer Masse infrage. Und die klassischen Kriegsbilder sind ja auch ein Geschäftsmodell. Die Medien brauchen diese Art von Bildern. Zu wenig Beachtung finden dann all diese Bereiche drum herum, die vom Krieg sowohl zeitlich als auch räumlich weit weg sind und die auf den ersten Blick nicht so spektakulär sind. Die lassen sich auch einfach nicht so gut verkaufen oder vermarkten.

Sie sind als westlicher Fotograf in die Regionen der ehemaligen Sowjetunion gereist. Macht es für Sie einen Unterschied, ob Sie als Externer in der Region arbeiten oder ein lokaler Fotograf ein Projekt macht?

Das ist schwer zu sagen. Da müsste man verschiedene Arbeiten vergleichen. Aber verbunden damit ist ja vor allem die Frage nach der Berechtigung. Hat es überhaupt Berechtigung, dass Menschen, nicht nur Fotografen, sondern auch Schriftsteller und Journalisten, irgendwo hingehen und über ein Land berichten, das ihnen absolut fremd ist? Ich finde, dieses Recht gibt es. Darüber hinaus unterscheiden sich die Ansätze. Mein Übersetzer fand die Sowjetinsignien furchtbar langweilig und hat nie verstanden, warum ich das fotografiere. Für ihn war das banaler Alltag, mit dem er aufgewachsen war. Und jetzt komme ich und finde das interessant.

Die Erwähnung Ihres Übersetzers ist ein gutes Stichwort. Ist ein solches Projekt ohne die Unterstützung lokaler Helfer denkbar?

Das ist unmöglich, absolut unmöglich. Was kann ich als Fremder, der die Sprache nicht versteht, machen? Ich kann ein bisschen Straßenfotografie machen, wenn man so will. Aber das sähe dann alles ziemlich anders aus. Für meine Fotografie ist ein Minimum an Verständigung mit den Menschen die Voraussetzung. Ganz viele Dinge, die ich suche, finde ich über die Einheimischen, weil ich frage, ob sie etwas von einem bestimmten Phänomen wissen. Zum Teil müssen die dann auch selbst erst einmal suchen und überlegen. Freelancer bzw. Stringer sind extrem wichtige Türöffner und Vertrauensbildner.

Einige der Regionen, in der Sie fotografiert haben, wie die Ukraine, sind aktuell in kriegerische Konflikte involviert. Wie fühlt sich das für Sie an?

Ich muss ehrlich sagen, dass dies für mich relativ weit weg ist. In der Ukraine habe ich vor allem in Kiew fotografiert. Früher war ich zwar auch mal im Westen des Landes, aber den Osten kenne ich gar nicht. Es beginnt immer dann emotional zu werden, wenn man Menschen vor Ort kennt. Ich könnte mir vorstellen, wenn in Berg-Karabach der Konflikt wieder ausbrechen würde, dass ich stärker berührt wäre im Sinne von »Shit, da kenne ich die und die ...« Das würde mir näher gehen.

Sie haben gerade ein Buch zu Ihrem Projekt veröffentlicht. Welche Bedeutung hat die Veröffentlichung für Sie?

Da gibt es verschiedene Bedeutungen. Zum einen ist es mein erstes Fotobuch. Für einen Fotografen ist es eine tolle Möglichkeit, etwas herauszubringen, das bleibenden Wert hat und wo man zeigen kann, was man macht. Zum anderen ist es eine Form von Abschluss für die Auseinandersetzung mit der ehemaligen Sowjetunion. Und bei der Beschäftigung mit Bildern in dieser geballten Form habe ich noch mal viel über meine Fotografie gelernt. Da standen plötzlich Fragen im Raum, die ich mir vorher nie gestellt hatte.

Eine Besonderheit des Buches ist, dass komplett auf eine Kapitelstruktur verzichtet wird. Was war der Grund für diese Entscheidung?

Wenn man in den einzelnen Kapiteln geblieben wäre, hätte man nicht die Möglichkeit gehabt, Mischungen und Analogien herzustellen. Ich finde es sehr ergiebig, das auszubauen und damit zu spielen. Zum Beispiel rund um den Begriff des Helden: Da gibt es die Kriegshelden, die mit Orden behangen sind oder die verstümmelten Atombombentestopfer als Antihelden. In einem Buch kann man das gut zusammenbringen. Das ist ein bisschen anspruchsvoller, aber ich denke letztlich wertvoller.

Sehr beeindruckend ist das Titelbild. Wie kam es dazu?

Das Bild ist für mich ein gutes Beispiel für das Schürfen unter der Oberfläche. Rund um den 9. Mai sieht man auf der Straße schon immer wieder interessante Dinge, aber vieles passiert im Verborgenen. Wir gingen zum Bildungsministerium in Wolgograd, um zu fragen, welche Rolle die Feierlichkeiten und der Sieg in den verschiedenen Ausbildungsstätten spielen. Dann meinte einer »Kommt mit« und wir gingen 500 Meter weiter in ein Gebäude und ich sah diese junge Frau, die jetzt auf dem Buchtitel zu sehen ist. Wenn man so etwas sieht, weiß man, dass es ein Superbild ist, das man machen muss. Mein Übersetzer fragte nach Erlaubnis und so entstand das Bild. Kurz drauf kam dann der Chef und es stellte sich heraus, dass er gar nicht wollte, dass wir dort fotografieren. Es war ein totaler Glücksfall, dass ich den Ort überhaupt gefunden habe und immerhin Zeit für dieses Bild hatte.

In Ihren Bildern tauchen auch immer wieder Denkmäler auf. Welche Bedeutung haben diese für Sie?

Für mich ist ein Denkmal ein Symbol dafür, wie sich etwas manifestiert. Einerseits versuche ich, Spuren vom Krieg zu finden. Dazu gehören dann alle Spuren, die in der Landschaft sichtbar sind, eben auch Denkmäler. Und Denkmäler sind vom Menschen gemacht. Und andererseits werden die Denkmäler vor allem am 9. Mai zu Pilgerorten, wie die Statue »Mutter Heimat ruft« in Kiew. Alle Menschen pilgern dorthin.

Diese Themen zeigen meiner Ansicht nach, dass ein wichtiges Element Ihrer Arbeit die Auseinandersetzung mit dem Patriotismus ist. Hat der Begriff Patriotismus für Sie über diese Arbeit noch mal eine andere Bedeutung bekommen?

Das ist vor allem eine Auseinandersetzung mit mir selbst. Mir ist Patriotismus absolut fremd. Das ist wirklich verrückt: Ich habe nix gegen die Schweiz, ich bin auch gerne hier, aber ich würde mich nicht als patriotisch bezeichnen. Dort versuche ich jedoch, das zu respektieren und zu verstehen. Aber wenn ich ehrlich bin, verstehe ich es nicht ganz. Das krasseste Beispiel war ein Mann in Nagorny-Karabach, der fast keine Beine mehr hatte, aber der mir allen Ernstes sagte, er würde wieder in den Kampf ziehen. Klar kann man sagen, dass er sich das ja einreden muss, denn sonst hätten sein ganzes Leben und sein ganzes Leiden keinen Sinn. Aber ich habe immer wieder erlebt, dass der Kampf und die Unabhängigkeit dort so wichtig sind, dass man bereit ist, dafür ganz viel zu leiden und zu geben. Aus meiner Biografie fällt es mir schwer, das zu verstehen.

In einer Begegnung beispielsweise mit den patriotischen Veteranen, wie schaffen Sie es da, trotzdem Empathie herzustellen oder den Menschen Respekt entgegen zu bringen, obwohl die Positionen konträr zu Ihren sind?

Grundsätzlich bin ich von der Natur her ein Typ, der versucht, anderen relativ wertfrei zu begegnen. Und das, finde ich, das muss man als Fotograf. Das geht gar nicht anders. Man kann nicht mit einer vollkommenen Ablehnung einer Gruppe über diese eine fotografische Arbeit machen. Das funktioniert nicht. Trotzdem ist man immer mit sich im Clinch. Ich finde, es gibt für alles Gründe und die interessieren mich und da kann man auch mal zuhören. Für mich ist dies eine Grundtugend eines Journalisten oder eines Fotografen.

Gibt es auch eine politische Botschaft, die Sie mit ihrer Arbeit verbinden?

Auf eine Formel gebracht: Ich verweigere mich eindeutigen Antworten. Das will ich nicht. Und das hängt mit dieser Botschaft zusammen. Trotzdem gibt es in meiner Arbeit auch klare Aussagen. Wie man zum Beispiel in Kasachstan Menschen als Versuchskaninchen behandelt, das finde ich daneben. Dazu kann ich stehen. Deswegen gibt es zwischendurch immer mal wieder klare Botschaften. Aber ich versuche, die Arbeit so aufzubauen, dass es immer wieder auch Gegenaussagen gibt, die den Betrachter verunsichern.

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