nd-aktuell.de / 23.06.2015 / In Bewegung

Die Toten marschieren auf

Und die meisten schauen es sich weiterhin im Fernsehen an

Elsa Koester
Immerhin Zehntausend demonstrierten am Wochenende gegen die tödliche EU-Politik, Europaandersmacher und politisch Schöne eingerechnet. Schicke Diskurspolitik. Und wann treten die Wütenden auf den Plan?

In der Hauptstadt herrschte am Wochenende der Totentanz. Ein Trauermarsch im Regierungsviertel, begleitet von der Melodie des widerständigen Aufbruchs in das Ende der Alternativlosigkeit; ein Akt des zivilen Ungehorsams, der das Massensterben in die Wiese des bundesdeutschen Parlamentarismus schaufelte; und ein mutiger Versuch am Samstag, die Frage nach linken Alternativen zur neoliberalen Traurigkeit in das europäische Zentrum zu tragen.

Leider riefen der EU-Anstrengungen, die SYRIZA in die Knie zu zwingen, nur knapp 6.000 Empörte auf den Plan: Die üblichen Demogänger, nicht mehr – und nicht weniger. Der existenzielle Kampf um Primärüberschuss, um Privatisierung und Mehrwertsteuern erscheint für die meisten also nur noch als Tanz der Toten. Merkels Ausblutungsstrategie, gepaart mit unmenschlicher Geduld im Warten auf einen »Greccident«, zeigt seine Wirkung.

Politische Schönheit: Öffentlichkeitsarbeit auf höchstem Niveau

Doch wieso zog die brillante, mit Öffentlichkeitsarbeit auf höchstem Niveau begleitete Aktion des Zentrums für Politische Schönheit kaum mehr Demonstrant_innen auf die Straße, als die institutionalisierte Linke von Partei, attac und Aktivistengruppen am Vortag? Keine Frage, die Aktion, im Mittelmeer gestorbene Flüchtlinge symbolisch wie auch reell in Berlin zu beerdigen – dort, wo viele von ihnen hin wollten und dort, wo man einen Großteil der Verantwortung für ihr Sterben trägt – war ein Clou in den Medien, eine 1a-Diskursintervention. Das Massensterben wurde wieder auf die Agenda gebracht, abseits von Diskussionen über angeblich schuldige Schlepperbanden, als ganz praktische Frage von Leben und Tod, wie sie sich den Flüchtlingen täglich stellt. Und dennoch zog die Aktion keine anderen Empörten als die die üblichen Aktivist_innen aus den antirassistischen Kämpfen vor den Reichstag, wenn auch im erweiterten Kreis.

Die Toten marschieren auf – und die Menschen schauen es sich weiterhin im Fernsehen an. Woran liegt das? Lullt die in Endlosschleife vorgebrachte Leier von Verhandlungen ohne Ende und die als genial verkaufte Idee der militärischen Bekämpfung von Schleusern und Fluchthelfern tatsächlich wieder genug ein, um die Welle der Empörung in den bekannten Nihilismus einzuebnen?

Wo steckt die Mehrheit?

Tom Strohschneider hat wie viele andere von uns versucht, der Mehrheit zu erklären[1], wie sich das so verhält mit den griechischen Staatsschulden, mit der humanitären Krise und der europäischen Alternative. Nun, sie kam nicht. Entweder vertraut sie weiter Mutti, oder es hat zu dolle geregnet – oder, am wahrscheinlichsten, sie hat es einfach nicht gehört.

Bleibt alles ruhig im Krisengewinnerland? Wohl kaum. Hunderttausende kämpfen an gegen Prekarisierung, Kostendruck und Lohndumping. Die Gürtel-enger-schnallen-Rhetorik hat ein Ende. Gut so: Letztlich leisten die Kita-, Post- und Charitéstreikenden vielleicht den wichtigsten Beitrag für ein anderes Europa. Wenn in Deutschland mit dem Niedriglohnvorreitertum gebrochen wird, gibt es einen fatalen Exportschlager im europäischen Rattenrennen um die schlechtesten Arbeitsbedingungen weniger.

Reicht das? Nö. Auf den Sofas sitzen noch immer die 20 Prozent Menschen, die denken, dass es eine Revolution braucht. Die 60 Prozent Menschen, die unser Politsystem nicht für eine Demokratie halten. Die die Nase voll haben von dem scheiß Jobcenter, von der scheiß Leiharbeit, von der elenden Hetze gegen Griech_innen und Flüchtlinge und von dem ganzen Scheißsystem, so sehr, dass sie nicht mehr wählen gehen, weil Merkel auch nur das Gleiche macht wie Schröder, wenn auch mit mehr Feingefühl. Die sich nicht mehr verarschen lassen wollen.

Wenn wir ein anderes Europa aufbauen wollen, auch von Deutschland aus, dann müssen wir es gemeinsam mit diesen Leute tun, die sich nicht mehr repräsentiert fühlen. Demo- und Aktionsangebote sind richtig, immer wieder. Wann sie wahrgenommen werden, das entscheiden die Leute selbst. Bis dahin wird es wohl bei fleißigen Diskursinterventionen bleiben, mal als Pflichtprogramm, mal spektakulärer.

Links:

  1. https://www.youtube.com/watch?v=t7lN4nKquAY&list=PL0zPxhlmI6joKW9NhOY9wpFNQtfKnGSWB&index=1