Wie in einem Spiegel

  • Georg Fülberth
  • Lesedauer: 3 Min.
Zu den Vorteilen des Parteiensystems in der Bundesrepublik gehört, dass es gesellschaftliche Kräfteverhältnisse und ihre Veränderungen ziemlich exakt abbildet. Ob die Zustände, die dadurch gespiegelt werden, einem nun passen mögen oder nicht, ist eine andere Frage. Immerhin: Sie werden kenntlich. Im ersten Bundestag von 1949 saßen 13 Parteien (wobei CDU und CSU hier als eine Einheit gezählt werden) sowie drei parteilose Abgeordnete. 1961 waren es nur noch drei Fraktionen. Ideologie und Realität der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« während des lang dauernden Wirtschaftsaufschwungs hatten ihre Wirkung getan. Zu den tief greifenden Wandlungsprozessen in der westdeutschen Gesellschaft gehört der Aufstieg der Intelligenz zu einer Massenschicht nach 1968. Dieser Umbruch brachte eine neue Partei hervor: die Grünen. Ihr Untergang ist immer wieder einmal prophezeit worden, insbesondere dann, wenn sie ihre Gründungsgrundsätze verleugneten oder sogar offen abschafften. Sie behaupteten sich aber, denn bei allen programmatischen Wandlungen blieb eines doch erhalten: eine soziale Schicht, die sich selbst wählt. Natürlich war auch der Anschluss der DDR an die BRD eine neue fundamentale Tatsache, die sich im Parteiensystem ausprägen musste: durch die PDS. Es bildeten sich jetzt zwei unterschiedliche Parlamentslandschaften heraus, diesseits und jenseits der alten Staatsgrenze. Ob die zunehmende soziale Zerklüftung künftig in einer nicht mehr ostlastigen Linkspartei, die die Interessen der Ausgegrenzten gesamtdeutsch zu vertreten vermag, ihren Ausdruck finden wird? Wir werden sehen. Und schon werden Bedenken laut, zum Beispiel: Die Zersplitterung des Parteiensystems erschwere das Regieren. Das muss aber kein Nachteil sein. Höchster Zweck der Demokratie ist nämlich nicht das Regiertwerden. Die Große Koalition samt ihren Blockaden wird zuweilen auf die komplizierte Gemengelage im Bundestag zurückgeführt. Dabei ist sie aber nur Ausdruck der Unbeholfenheit, mit einer solchen neuen Situation umzugehen. Einige skandinavische Länder haben in der Vergangenheit gezeigt, dass Minderheitsregierungen durchaus tatkräftig sein können. Dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts ist dies offenbar zu riskant. Er bringt die Einführung eines Mehrheitswahlrechts ins Spiel. Stattdessen sollte überlegt werden, ob zur doch recht erstaunlichen Flexibilität und Integrationskraft des hiesigen Parteiensystems nicht das bisherige Wahlrecht beigetragen hat. Unter solchen Voraussetzungen könnte allerdings auch der Einzug der NPD in zwei Landtage zu einem wichtigen Gefahrenmelder werden. Es ist keine ausschließlich ostdeutsche Angelegenheit. Die DVU ist ja nicht nur im Landtag von Brandenburg, sondern auch in der bremischen Bürgerschaft vertreten und hatte früher nicht nur im Landtag von Sachsen-Anhalt, sondern auch in dem von Schleswig-Holstein eine Fraktion. Die Fußball-Weltmeisterschaft diesen Sommer war ein Triumph der »zivilgesellschaftlichen« Public Relations. Jetzt zeigen sich wieder die nationalen Besonderheiten. Haider in Österreich, Le Pen in Frankreich und Fini in Italien sind unerfreuliche Gesellen, der eine oder andere darf auch als Faschist gelten. Hier aber haben wir etwas Anderes: nämlich Hitler-Nazismus ohne Hitler (und vorläufig noch ohne Unterstützung des Großkapitals). Diese Lektion ermöglicht ebenfalls einen (hoffentlich folgenreichen) Einblick in deutsche Realitäten im Medium des Verhältniswahlrechts.
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