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Die Nacht in Riom

Eine Erzählung

  • Theodor Weißenborn
  • Lesedauer: 9 Min.

Verdrängt, vergessen wie eine Peinlichkeit, ein Fauxpas, aber emporgespült jetzt aus der Erinnerung, in den Bildfolgen meiner nachmittäglichen Tagträume, weil eine Laune der Psyche es will: das grillendurchzirpte Maquis am Hang jenseits der Gleise, Zigarettenkippen auf rostbraunem Schotter und der ächzende Bohlenüberweg am Bahnhof von Riom-ès-Montagne, wo ich aussteigen muss, weil der Zug mich sonst weiterträgt nach St-Flour.

Wen zieht’s nach Riom, wo die Lokomotive ihr Wasser ablässt und der Schaffner den Aufenthalt nutzt, um sich in der Bahnhofskneipe eine Dose Bier zu holen, wer steigt aus in Riom an einem Nachmittag unter der Woche bei brütender Hitze, wenn die Hühner in Sandmulden schlafen, der Asphalt weich und die Milch dick wird? Kein Urlauber - die kommen im Winter -, kein Wallfahrer - die fahren allenfalls nach Le Puy-en-Velais - und kein Bauer, wenn nicht gerade Viehmarkt ist. Aber vielleicht ein Mädchen mit einem Korb mit Junghennen, Madame Paluche, die Wasser in den Beinen hat und in der Stadt bei Docteur Tisserand war, ein Reservist, der zum Ruhm der Armee schon des Nachmittags um vier sturzbetrunken ist, und - in schneeweißem Complet mit Kreissäge und Peddigrohrkoffer - natürlich der verrückte Compositeur aus Châtelet, der donnerstags, wenn die Bahnhofskneipe geschlossen ist, aus dem Schalterraum daheim anrufen darf, damit sein Chauffeur ihn abholt.

An jenem bestimmten gewitterschwülen Tag, den ich im Sinn habe, war der Gedanke, in die Gaststätte zu gehen, mir unangenehm. Ich hätte dort anstandshalber, weil ich telefonieren durfte, ein Glas Wein oder einen Café trinken müssen, und wahrscheinlich hätten die übrigen Gäste den falschen sozialen Ton angeschlagen und mich angepflaumt wegen meines eigensinnigen Outfits.

Ich setzte den Koffer ab, wischte mir die Stirn - und vergaß, dass ich nach Hause, nach Châtelet wollte, denn da war das Zirpen der Grillen drüben am Hang, das tausendfältige Raspeln und Lispeln ihrer Körperinstrumente, das mich lockte, die Gleise zu überqueren und am Rand des Maquis gemächlich den Schienen zu folgen, ihrer sanften Steigung, nur dem Gezirp lauschend, das da war und war und immer noch war, als ich, erinnert durch das Schwinggeräusch der Kneipentür im Bahnhofsgebäude, mich noch einmal nach meinem Koffer umsah. Der stand einsam auf dem Bahnsteig, unter dem Schild mit der Perrier-Reklame, und gerade in diesem Moment, als ich zurückblickte, kam ein kleiner saufarbener Hund aus der Schwingtür der Bahnhofskneipe, lief zielsicher, als hätte ihn jemand beauftragt, auf den Koffer zu, beroch ihn an allen Kanten und Ecken, hob das Bein, pieselte ihn ausführlich an und tippelte stracks zurück in die Kneipe.

Ich stand und starrte und war so verblüfft, dass ich nicht einmal »Du Bastard!« rief. Die Schwingtür pendelte und kam zur Ruhe, der Koffer stand still in der sengenden Sonne, vermutlich in einer kleinen Pfütze, die rasch verdunsten würde - ein Notenblatt würde vielleicht als Schaden eine gelbe Ecke davontragen -, ich sah es vor Augen und bedachte es wohl, aber ich fühlte, zu meiner eigenen Verwunderung, statt Ärger eher Belustigung, Heiterkeit, Leichtigkeit, ja eine seelische Schwerelosigkeit, ein Gefühl, als stiege ich auf wie in Träumen und schwebte davon, so dass Hund, Koffer und Bahnhof hinter mir zurücksanken ins Wesenlose und ich keine Sekunde lang daran dachte, etwa zurückzugehen und den Koffer auf die Bank zu setzen - denn ich brauchte ihn nicht mehr! Ich hatte ihn abgestellt wie mich selbst, denn auch ich selbst war zurückgeblieben, und ich trauerte mir nicht nach - bei Bedarf würde ich schon auf mich zurückkommen, bis dahin war ich froh, wenn ich mich nicht belästigte. Und auch Châtelet war nicht wichtig und kein anderer Ort, an dem ich je gelebt hatte zu irgendeiner anderen Zeit, nur das Jetzt war wichtig, die zeitlose Zeit. Das Gezirp im Maquis wie vor tausend und zehntausend Jahren, nie gab es Besseres zu tun als dem Klang der Welt zu lauschen, ihn einströmen zu lassen in einem einzigen umgreifenden, allumfassenden Atemzug - nichts war außer dem Konzert der Grillen, die da sagten, eine jede für sich und alle zusammen: »Ich zirpe, du zirpst, sie zirpt, wir zirpen, ihr zirpt, sie zirpen«, und die nicht müde wurden, einander ihr Dasein zu bestätigen, damit kein Zweifel aufkomme an ihrer aller bleibenden Gegenwart.

So setzte eine von ihnen, die zuvor geschwiegen hatte, neu ein, wenn eine andre verstummte, so gönnten sie sich Pausen, tauschten die Rollen, sammelten und vergeudeten sie ihre Kraft, rieben und raspelten sie mit Gebein und Geflügel, brachten sie die Welt zum Klingen, konstellierten sie die Stille und machten sie die Stille fühlbar als den Grund aller Klangfiguren, indem sie sie durchtönten und in Resonanz versetzten, so dass sie sich selbst aussprach und ihren Urlaut ertönen ließ: »Ommmmmmm!«

Ich war und wusste nicht, wo, war gekommen und hatte vergessen, woher, ging weiter und wusste nicht, wohin, fühlte mich gezogen in ein Fernes, Unbekanntes und ließ mich verschlagen, verlocken ins Blaue. Durchzirpt vom Grillenchor ging ich dahin im Schottergras zwischen Gleiskörper und Dornenhang, darin außer den Insekten ein Windchen am Werk war, das die gelbe Dürre durchsauste, da wurde ein Knistern laut wie von platzenden Schoten des Ginsters oder als hüpfte ein Flämmchen durch dürres Gehölz, und weiter fort am Waldrand bergauf begannen plötzlich die Wipfel der Tannen zu wogen, Böen kündeten Sturm: das ersehnte Gewitter.

Ein Gleis zweigte ab vom Hauptstrang nach St-Flour - hier wartete ein Güterzug ohne Lok, offenbar allein, ohne Aufsicht sich selbst überlassen, kein Mensch, keine Uniform war zu sehen. Ein weiteres Gleis zweigte ab, ein totes, an dessen Ende ein Prellbock stand sowie ein einzelner, offenbar ausrangierter Waggon älterer Bauart mit Bremserhäuschen und Perrons.

In diesem Augenblick fielen erste Tropfen, fielen prall und schwer, und der Waggon lud mich ein, in ihm Schutz zu suchen. Ich stieg auf den nächstgelegenen Perron, fand die Tür zum Wageninnern offen, erkannte in warmer Dämmerung einen kleinen Kanonenofen, dessen Rohr durchs Dach hinausführte, zwei Holzbänke an den Längswänden und einen Tisch mit einem schmutzstarrenden Wachstuchüberzug, darauf ein Kerzenstummel klebte.

Paukenschlag des Donners als Auftakt der Regensymphonie. Voller Einsatz des Orchesters: der Faucher, der Heuler, der Tropfer, der Prassler und Plätscherer - und dazwischen immer wieder, mit Blitzlichteffekten, die kurzen Soli des Paukenschlägers, der keine Ermüdung, kein Nachlassen der Spannung, kein Einschlafen duldet. Aufbrausende, anbrandende, abebbende und schließlich gleichmütig dahinrauschende Fluten zu meinen Häupten und ich selbst im Innern des Klangleibs der Regentrommel, unterm tönenden Gewölbe, das der Regenwind peitscht und davon die Wasser seitwärts hinabsträhnen und den Schotter bepladdern. Und wie das Getöse im dämmrigen Raum, wach und müde zugleich, andauert und forttönt in sich fast gleichbleibender Schwingung, deren Varianten die Vielfalt in der Einheit sind, und wie ich einschwinge ins wiegende Geräusch, da ist’s wie im stillliegenden Kahn, an dem das laubtragende Wasser des Flusses vorüberzieht - er setzt sich in Bewegung und fährt plötzlich stromauf, in derselben Geschwindigkeit, mit der die Strömung ihm begegnet. So lässt er sich forttragen in eine imaginäre Ferne, ohne vom Fleck zu kommen, und gleitet zügig dahin, ob er gleich stillliegt am Ufer unter strähnigem Weidenhaar und nur sanft sich hebt und senkt mit den heranlaufenden Wellen.

Obzwar der Güterwaggon, darin ich träumend lausche, stillsteht auf totem Gleis, kein Rad sich dreht und allenfalls sein Gebälk erzittert, wenn der Wind sich dagegenwirft, so scheint er sich doch in Fahrt zu setzen mit einem leisen Ächzen des Achsgestells, scheint der Bremser die Blockierung der Räder zu lockern und beginnt eine Reise aus dem Tag in die Nacht, während der mir ein Lied in den Ohren tönt, das Schlaflied der Räder, die, im Gleichtakt Ortsnamen singen, die das Gewicht von Schicksalen und den Wohllaut von Melodien haben, und es klingt wie: Besse-en-Dos, Dore l’Eglise, Tour-la-Vache, Bort-les-Orgues, Gorge d’Aurant, Nîmes-le-Vieux, Bar-le-Duc, Epernay, La Bourbeule, Nasbinals, Maréchal, Lavaudieu, Vic-le-Comte, Vic-sur-Cère, Vic-en-Cime, St-Laurent, St-Allyre, St-Privat, St-Ilpice, St-Rémy, St-Pourçain. Und dann bin ich selbst im Film, schwebe herzu und lande, lese Namen auf Grabsteinen, gehe schleppend von Grab zu Grab und zum nächsten, wische mit dem Handballen den Staub von den emaillierten Porträts der Verstorbenen, erkenne Auguste Valmaurin, meinen Doktorvater, ein Bild aus seinen besten Jahren, ich kondoliere seiner Witwe, Aristide Maillard, als Vertreter der Académie, hat die Rede gehalten, mein Freund Serge Piquet steht da, und ich höre, wie Maillard zu ihm sagt: »Den Nekrolog auf dich hab ich auch schon parat.« Das schneidet wie ein Messer, und wie ich unter Tränen erwache, durchfährt mich der Gedanke: Ich warte auf meine Beisetzung, und ich rekapituliere: funérailles, enterrement, pompes funèbres - und finde mich wieder auf einer Holzbank in einem ausgedienten Güterwaggon der SNCF, auf einem toten Gleis des Bahnhofs von Riom-ès-Montagne, Departement Cantal, Frankreich, Europa, Erde, Milchstraße, All, so gut wie zu allen Zeiten und an allen Orten inmitten der Welt.

Von tausend Möglichkeiten, zu sein, ist dies eine. Von tausend Leben an tausend Orten ist meines das meine, und von tausend Menschen zu tausend Zeiten bin ich allein Stephen Wanderer!

Ich wusste, wie ich hieß, wusste wieder, wo ich war, und ich wusste das Datum des neuen Tags: Es war Donnerstag, der 16. August 1985, ein Tag, den ich ankreuzte in meinem Taschenkalender als den Tag einer Wiedergeburt, und wie ich im regennassen Schottergras dorthin zurückging, wo ich mich tags zuvor wie meinen Koffer vergessen hatte, da stiegen ringsum die Lerchen auf und sangen in den frischgewaschenen Morgen, und ich lebte aufs neue und ergriff mich, denn wenn schon ein jeder Mensch ein Zentrum der Welt war, so war ich’s nicht minder und war jetzt und hier der Rechte am rechten Platz und zur rechten Zeit.

Am Fahrkartenschalter - er wurde gerade geöffnet - fragte ich, ob vielleicht jemand einen Peddigrohrkoffer abgegeben habe.

»Ihr Koffer ist da, Monsieur! Ich habe ihn selbst hereingeholt. - Geht’s Ihnen gut?«

Der Mann blickte besorgt. Ich muss wohl ziemlich derangiert ausgesehen haben, ungewaschen und ungekämmt, wie ich war, und in meinem zerknitterten Anzug, wie nach einer durchzechten Nacht. »Alles in Ordnung«, sagte ich, »vielen Dank!«

Er fragte, ob ich telefonieren wolle, und ich dankte ihm abermals.

Und dann kam Gaspard mit dem Wagen, ich sagte, ich sei in Paris aufgehalten worden und hätte den Nachtzug genommen, und wir fuhren nach Châtelet, zur Alten Schule, wo mich die Hunde erwarteten und die Katze Minou, wo wie jederzeit und überall auf Erden Geburt und Leben und Tod war, Verzweiflung und Trauer, Freude und Glück, und meine Welt - die einzige, die ich hatte, weil ich sie ergriff wie mich selbst - war wieder rund und prall, und es fehlte mir nichts.

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