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Pädophile aus Kreuzberg

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 2 Min.

Kürzlich erreichte mich per Mail eine dringende Warnung. In meiner Nachbarschaft, so hieß es, würden Pädophile ihr Unwesen treiben. Jetzt sei meine Aufmerksamkeit als Familienvater gefragt. Ich sollte mich mit anderen zusammenschließen und eine Nachbarschaftswache gründen. Außerdem sollte ich meine Kinder nicht mehr unbeaufsichtigt lassen, sie, wenn möglich, überallhin begleiten. Dass die Lage ernst ist, wurde durch den Hinweis unterstrichen, dass die Zahl von sexuellen Missbrauchsfällen in den letzten Jahren in meiner Stadt um fast 25 Prozent angestiegen sei. Täter (von denen einer sogar abgebildet war!) seien in der Regel Männer, die harmlos aussehen und vor Kurzem erst in die Gegend gezogen seien. In meiner Nachbarschaft gibt es von diesen Typen eine ganze Reihe. Eigentlich müsste ich mir selbst misstrauen, aber ich kann zu meiner Verteidigung vorbringen, dass ich mittlerweile schon zehn Jahre hier wohne, also aus dem Kreis der Verdächtigen ausscheide.

Überhaupt deckten sich die Warnungen nicht mit meinen Beobachtungen und der Statistik. Aber als Vater von zwei Buben im Alter von 16 und 13 kann man nicht vorsichtig genug sein.

Die Paranoia hat mich dann doch nicht überwältigt. Das lag allerdings weniger an der plumpen Panikmache, die die Mail verbreitete, sondern weil sie in Englisch verfasst war und seltsamerweise nicht von Berlin, sondern von Orten jenseits des Atlantiks die Rede war.

Ich weiß nicht, wie viele Menschen in Berlin diese Mail auch erhalten haben. Eines hat diese auf jeden Fall erreicht: die Stereotype über die USA im Allgemeinen und ihre Bevölkerung im Besonderen zu verstärken.

Das ist wieder mal typisch! Wir sollten aber mehr Vertrauen in unsere Mitmenschen haben - ganz gleich, ob sie aus irgendeinem Hinterwäldlerkaff der USA stammen, aus Kreuzberg oder aus Marzahn. Aufklärung tut not, wie eine Studie der FU Berlin jüngst herausgefunden hat. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ließen Probanden aus mehreren Stadtteilen Berlins an einem Spiel teilnehmen, bei dem über die Mitspieler lediglich deren Wohnbezirk bekannt war. Ziel des Experiments war es herauszufinden, wie viel Vertrauen die Testpersonen ihren Mitspielern entgegenbringen.

Das Ergebnis ist niederschmetternd. Mitspielern aus Stadtteilen wie Marzahn und Wedding werde weniger vertraut als Mitspielern etwa aus Prenzlauer Berg oder Kreuzberg. So seien vor allem die Kreuzberger als besonders vertrauenswürdig eingeschätzt worden, obgleich der Stadtteil ein deutlich niedrigeres durchschnittliches Nettoeinkommen und eine höhere Arbeitslosenquote aufweise als beispielsweise Marzahn, dessen Bewohnern wiederum im Spiel am wenigsten vertraut wurde.

Vielleicht wurde die Pädophilen-Mail ja auch von Marzahn aus verschickt. Wer weiß ...

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