Denken ohne Geländer

Beim Ortstermin eine Vermessung von Welt: »Intellektuelle in Heidelberg 1910-1933«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.
Heidelberg war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Zentrum der Philosophie. Hannah Arendt, Anna Seghers und viele mehr hatten hier ihren geistigen Sammelpunkt. Ein neues Lesebuch erinnert an die Intellektuellen in der Neckarstadt.

Goethe in Weimar, Hölderlin in Tübingen, Kafka in Prag, Heidegger in Freiburg, Brecht in Buckow, Schleef in Sangerhausen. Menschen und Orte. Zuschreibungen von Geist und Geografie. Doch jedes Mal die Erkenntnis: Wahrheiten machen nur Zwischenlandungen, sie bauen sich nirgends ein Nest. Und eine weitere Tatsache, wann und wo immer über das Verhältnis von Aufenthalt und Haltung, von Behausung und gedanklichem Horizont geschrieben wird: Erst in den Händen sinnenbegabter Historiker wird Geschichte zum Ort, da Report in Erzählung umschlägt, also Errettung geschieht - des Einzelnen aus den Tendenzfängen der Soziologie.

»Intellektuelle in Heidelberg 1910-1933« heißt der Sammelband, der im Geiste des soeben Festgestellten wahrlich beeindruckt und anzieht. Auch wenn der spröde Titel mit einem Erlebnis des Gegenteils droht. Die Herausgeber Markus Bitterolf, Oliver Schlaudt und Stefan Schöbel komponierten eine Anthologie von 32 Aufsätzen - um wach zu machen für einen geschichtsschreibenden Geist, der lebt, nicht archiviert. Da ist die Studentin Hannah Arendt, die in der Neckarstadt den prägenden Zionisten Kurt Blumenfeld kennenlernt. »Bei Dir ist mir Politisches überhaupt zum ersten Mal und unentreißbar lebendig geworden.« Ein Gemütsblitzeinschlag, der viele Jahre später im Gespräch mit Günter Gaus zum Satz führt: »Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude verteidigen.«

Eine Logik, in der eine jahrhundertbestimmende Frage auflodert: Wie viel Selbstversagen klagt aus jedem widerstandslos erlittenen Leid, wie viel todgefährliche Courage darf man von Menschen verlangen, welches Maß an Vorwürfen ist gegenüber friedfertigen Opfern erlaubt? Auch: Wie viel Gewalt benötigt eine Würde, die am Leben bleiben will? Mit einem Blick auf Heidelbergs steilen, aber geländergesicherten Philosophenweg beginnt das Porträt, um es dann zum Kern von Arendts geistigem Unruheprogramm zu geleiten: »Denken ohne Geländer«. Ein Programm fürs gesamte Panorama, das sich hier öffnet.

Denken ohne Geländer. Fühlen ohne Korsett. Leben ohne Vernormung. Da ist der Philosoph Alfred Seidel, Wandervogel und Gegner des »Kulturgewolles« im Stefan-George-Kreis, begeistert von Ernst Bloch, gequält von Depressionen. »Politik wird wild werden; ich stehe aufseiten der rücksichtslosen Kommunisten und achte die gläubigen Fanatiker, wenn ich es selbst auch nicht sein kann (...) Es wird düster werden, aber es muß sein, terroristischer Bolschewismus oder terroristische Reaktion wird die grausige Alternative sein, und da stehe ich auf ersterer Seite.« Sein Hauptwerk wird »Bewußtsein als Verhängnis« heißen, publiziert erst nach dem Freitod 1924 - welch ein Titel, welch ein Thema! Der Mensch als ein mit Denkkraft Gebenedeiter - und just dieses Denken als fortdauernde Ursache für höllische Irrfahrten; das Bewusstsein, dieses Schöpfergeschenk, immer auch als tragisch-verbrecherische Fehlkonstruktion. So wird, in bitterster Konsequenz, die Selbstauslöschung zum aufklärerischsten Akt - weil er der klarsten Erkenntnis die entschiedenste Tat folgen lässt.

Geistesgeschichte im politischen Zerrfeld zwischen Vorkrieg und Krieg und nächstem Vorkrieg. Biografien - und Heidelberg als Sammelpunkt, Ausgangspunkt, Aussichtspunkt. Anna Seghers und Walter Benjamin, Ernst Toller und Jürgen Kuczynski, Golo Mann und Georg Lukács. Norbert Elias und Hilde Domin. Prominente - und auf den ersten Blick eher Unbekannte wie der »Argonauten«-Herausgeber und expressionistisch-melancholiebeseelte Dichter Ernst Blass. Oder der Statistik-Professor Julius Gumbel, der vor sozialistischen Studenten Anfang der dreißiger Jahre über »Krieg und Arbeiterbewegung« sprach und in Erinnerung an die 700 000 deutschen Hungertoten des Ersten Weltkrieges die Kohlrübe als Kriegerdenkmal predigte - die Folge: Aufruhr, Massenversammlungen, Disziplinarverfahren. Oder: der russische Biologe Sergej Tschachotin, der für antinazistische Großdemonstrationen eine Fahne entwarf - drei Pfeile, gerichtet gegen ein fliehendes, mit »Füßen« versehenes Hakenkreuz. Oder: der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch und seine Idee vom Primat des Besserungsgedanken vor dem Vergeltungsprinzip. In allen Porträts ein existenzieller Höhegewinn durch die beiden kräftigsten Flügel der Intelligenz: Gelehrsamkeit und Liebe. Gelehrsamkeit, die belehrbar bleibt; Liebe (zu Menschen, zu Gedanken), die so viel gibt, wie sie nimmt. Sie gibt Impulse für menschliche Politik und nimmt Träume ernst.

»Die Austreibung des Heidelberger Geistes« lautet eine Zwischenüberschrift im Buch. Der braune Schwall als Einbruch des Entsetzlichsten. Unabwendbar - tatsächlich? Vorhersehbar - wirklich? Ein Gedanke lässt mich am Ende der Lektüre nicht los: Wie ist das heute? Was treibt die Kassandra gegenwärtig in uns, was der blinde Seher Teiresias? Rufen sie? Und hören wir? Und was wäre zu tun? Auch wir leben in gefahrvollen Zeiten, aber was stellen Ahnung und Wissen, was Hoffnung und Skepsis in uns, mit uns an? Wie verhängnisvoll selbstsicher sind wir in unserem Glauben an Bestand und Beruhigung und eine schlachtenfreie unblutige Zukunft? Wie furchtbar nah ist schon, was wir wegschieben, wie böse bedrängend das, was wir täglich verdrängen? Ist schon alles gewonnen, nur weil kein neuer Hitler droht?

Aus den Porträts dieses Bandes knallt die Frage nach dem Verhältnis von bewusstem Handeln und Gutgläubigkeit in den politischen Prozessen der jeweiligen Gegenwart. Nicht allen damals konnte zum Beispiel bewusst sein, dass der Schritt nach links ein Schritt hin zur Todesgefahr sein würde. Wer konnte damals mit Gewissheit prophezeien, dass Neigung zur Rebellion in Bälde in Konzentrationslager führen würde? Fast immer hat der Mensch den größten Mut dann, wenn er noch nicht weiß, dass sein Handeln wirklich mutig ist. Gerade Intellektuelle stießen doch vielfach nicht aus erlittener Not zu Fortschrittsbewegungen, sondern aus Entdeckerlust; was sie trieb, war antiautoritäres Pathos und aufrührerischer Überschwang. Carl Zuckmayer, der in Heidelberg studierte, beschreibt »unbändige Lebenslust, Lach-, Spott- und Spielfreude, stets etwas abenteuerlich gestimmt, weit offen für allen produktiven Zündstoff der Zeit«. Die Herausgeber summieren: »Dichter, Philosophen, Provokateure, Verrückte, Weise, Outsider, Insider, Enthusiasten, Egomanen, Liebende, Reisende ...« Radikale Kritik des gesellschaftlichen Status quo: oft ein Kunst- und auch Lebenselixier, das jungen Intellektuellen Kräfte zuschaufelte, die man genoss. Auch der Marxismus: eine Formsetzung gegen das frei flottierende Gehabe - mancher fügte sich in diese Form, ohne weniger bürgerlich zu sein. Und plötzlich dann die Feme. Diese schlimme Not, das Gute und Geistvolle just in einem Moment verteidigen zu wollen, ja zu müssen, da es umstellt ist von Mordgier. Da also der Handelnde begreift, dass er untergehen kann. Und er trotzdem handelt. Und so zur Bilanz beiträgt: Nicht alle Scheiternden sind anständig, aber alle Anständigen scheitern.

Porträts (darunter acht Frauen), geschrieben von Wissenschaftlern und Publizisten. Man möchte alle Autoren nennen - also nenne ich keinen. Die ersten Jahrzehnte eines Jahrhunderts werden besichtigt. Die Utopie begegnet der Entzauberung, das Kriegselend den Friedensorgien. Bürgertum schafft Bürgerschreck, die Bohème boomt. Der Revolutionär legt an, der Reaktionär legt um, das Kapital legt an, die Krise legt zu. Konkrete Geschichte zwischen Reich und Republik und Diktatur, und im Konkreten die Fortschreibung des Ewigen: Alles in der Geschichte beginnt lange vor jenem Zeitpunkt, da wir glauben, es habe begonnen - und alles endet weit später, als wir meinen, es habe geendet.

Das Buch folgt Spuren, legt selber welche: Es ist eine souveräne, spannende Polemik gegen die geschichtsschreibende Liaison von Richtigkeit und Langeweile. Gegen ein Historikerdeutsch, das nichts von den Entfesselungen bewegter Seelen weiß oder wissen will - und das alle Geschichte und alle Geschicke nur ins Analyse-Joch von Strukturen und Verhältnissen zwingt. Dieser Band weiß etwas vom Drama. Er hat Gespür für Momente zwischen Steigen und Fallen. An solchen Punkten ist Geschichtsschreibung nicht nur Verweis darauf, dass etwas faul ist im Staate Dänemark, sondern: Hamlet tritt auf. »Und der Mensch? Und der Mensch? Wund bin ich und zerwühlt.« Ernst Toller.

Markus Bitterolf, Oliver Schlaudt, Stefan Schöbel (Hrsg.): Intellektuelle in Heidelberg 1910-1933. Ein Lesebuch. edition schöbel Heidelberg. 430 S., engl. Broschur, 23,80 Euro

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