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»Der Dialog wird nur laufen, wenn relevante Staaten ihn auch wollen«

Der Soziologe und Konfliktforscher Wolfgang Zellner über die derzeitige und künftige Rolle der OSZE

  • Lesedauer: 8 Min.

Als 1975 die Unterschriften in Helsinki geleistet worden sind, waren wir beide noch Studenten, nehme ich an - Sie in Regensburg?

Ja.

Das heißt also, wir sind nicht so richtig Zeitzeugen. Was muss denn für uns und Jüngere auf dem historischen Merkzettel KSZE-Prozess stehen?

Es war das erste Mal, dass nach dem Kalten Krieg ein großer europäischer Akkord, also eine große Einigung herbeigeführt worden ist. Dahin zu gelangen, war kompliziert. Wenn Sie sich jetzt mal die Zeitachse angucken, dann werden Sie feststellen, dass zuerst ein wichtiges Stück Abrüstung kommen musste. Der SALT I-Vertrag und der ABM-Vertrag sind beide 1972 abgeschlossen worden. Auch MBFR, also die Mutual Balanced Force Reductions, da ging es um konventionelle Rüstungskontrolle in Mitteleuropa, hat vor Helsinki begonnen. Was die Bundesrepublik Deutschland direkt betrifft, sind die Verträge mit der Sowjetunion und der Grundlagenvertrag mit der DDR zu nennen, Das war alles vor Helsinki. Man musste, bevor man dieses komplexe KSZE-Werk aufstellen konnte, sehr viele Probleme lösen.

Die wichtigsten Kontrahenten mussten sich schon mal an einen Tisch gesetzt haben, bevor man alle anderen dazu bitten konnte?

Ja, man musste ganz wichtige Spezialthemen abräumen, die nicht Europa als Ganzes berührten, aber dann doch so viel Ausstrahlungskraft hatten, um möglicherweise eine Gesamtvereinbarungen zu verhindern. Die sogenannte deutsche Frage war wesentlich und es war damals auch das Interesse des Westens, dass Rüstungskontrolle auf nuklearstrategischer Ebene wie auf konventioneller Ebene Vorrang hatte. Das war sogar eine Bedingung, wenn ich mich richtig erinnere, bevor man nach Helsinki gehen konnte.

Dann sprach man von Vertrauensbildung.

Diese vertrauensbildenden Maßnahmen wurden damals nicht zufällig noch VBM genannt - Vertrauensbildende Maßnahmen - und nicht VSBM - Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen. Das deutet schon darauf hin, dass die militärische Relevanz relativ gering war. Es waren ganz hohe Schwellenwerte für die Ankündigung von Manövern, und die Einladung von Beobachtern war noch freiwillig. Aber natürlich war es ein Einstieg. Damals ging man von einem wichtigen Prinzip aus: dass man gemeinsam Dinge tun kann, die für sich genommen gar nicht so bedeutend sind, aber den Einstieg in bestimmte Materien ermöglichen. Das war eben bei den vertrauensbildenden Maßnahmen des Helsinki-Dokuments eindeutig der Fall.

Dieses Ins-Gespräch-Kommen ist ein Wesensmerkmal, das auch die OSZE antreibt. Aber nach der Überleitung der Konferenz zur Organisation 1995 hat die OSZE ziemlich geschlafen. Warum? Wurde sie nicht mehr gebraucht oder machten große Organisationen wie EU und NATO alles Wesentliche unter sich aus?

Ich glaube, das Stichwort ist tatsächlich »gebraucht«. Die OSZE lebt nicht aus sich heraus, weil sie so stark wäre. Die OSZE lebt dann auf, wenn sie von Staaten benutzt wird. Und sie ist eben von den Staaten, wie Sie sagten, mindestens ein Jahrzehnt, ich würde mal sagen, ab dem Gipfeltreffen von Istanbul 1999 bis in die jüngere Zeit hinein, nicht oder nur relativ wenig genutzt worden. Es ist ein Wesensmerkmal dieser Organisation, dass sie eine relativ geringe institutionelle Autonomie hat und sozusagen im Besitz ihrer Teilnehmerstaaten ist. Und wenn die Teilnehmerstaaten nichts machen mit der Organisation, dann findet einfach nur Routine statt.

Das hat sich mit der Ukraine-Krise erkennbar geändert. Da haben wichtige Teilnehmerstaaten, die Ukraine selbst, Russland, Deutschland und Frankreich, also die Normandie-Gruppe, aber auch viele andere Staaten diese Organisation benutzt. Und tun es weiter. Wahrscheinlich auch deswegen, weil man nichts anderes mehr hatte. Weil man eine Plattform brauchte und sich dann eben die Idee durchsetzte, okay, wir können das mit der OSZE machen. Ein anderer Grund war natürlich , dass die OSZE ganz erstaunlich schnell das getan hat, was man von ihr verlangte, nämlich diese Sonderbeobachtungsmission in der Ukraine aufzustellen. Da war die OSZE schnell und gut vorbereitet, was viele Außenstehende erstaunte.

Wie kommt das? Bisher dahin hatte man sie ja höchstens noch wahrgenommen als Wahlbeobachter oder Ähnliches.

Ja.

Und dann plötzlich kam so ein gewaltiger Konflikt auf ihren Tisch und die OSZE funktionierte.

Ich will drei Faktoren nennen: Erstens hatten wir zu dem Zeitpunkt ein klasse Vorsitzland. Das ist zwar ein kleines Land, aber eines mit einer hoch entwickelten Diplomatie.

Die Schweiz?

Genau. Es gab dann sehr starke deutsche Unterstützung für das Unternehmen SMM. Ich würde so weit gehen zu sagen, dass es diese Beobachtermission der OSZE in der Ostukraine ohne die Rolle Deutschlands nicht gegeben hätte. Und dann hatten wir, was viele Leute übersehen, im Jahre 2011 in Vilnius einen ziemlich unscheinbaren Beschluss gefasst. Der ist sehr technisch, den hat bisher kaum jemand gelesen. Aber dieser Beschluss hat es dem OSZE-Sekretariat erlaubt, bestimmte Vorbereitungsschritte über Jahre hinweg aufzubauen. Und das ist für mich die erste Planungsphase für die Sonderbeobachtungsmission. Zwischen 2012 und 2014 hat man sich viele Dinge ausgedacht, um rasch größere Unternehmungen hochzuziehen.

Beispiel: virtuelle Ausrüstungspools. Die OSZE hat nicht das Geld, sich 50 gepanzerte Fahrzeuge ins Lager zu stellen. Die OSZE ist eine arme Organisation. Aber man kann natürlich vorbereitende Kaufverträge mit bestimmten Anbietern schon so vorantreiben, dass im Bedarfsfall alles klappt. Dasselbe gilt für das sehr kompetente Personal.

Nun ist ja ein grundsätzlicher Wandel zwischen dem Helsinki-Prozess und der aktuellen Zeit zu sehen. Damals ging man von zwischenstaatlichen Rivalitäten aus, die man eindämmen wollte.

Ja.

Inzwischen liegen die Konflikte eher im innerstaatlichen Bereich. Wird das die Zukunft der OSZE sein?

Das ist ja schon Gegenwart, schon viele Jahre. Wenn man sich die Balkankriege anguckt, das waren ja auch nicht mehr nur eindeutig zwischenstaatliche Kriege. Und im Kaukasus ist es ähnlich. Nun die Ukraine. Natürlich gibt es da immer Einflüsse von außen. Die Auseinandersetzung in der Ukraine ist undenkbar ohne die aktive Rolle Russlands, ohne den russischen Nachschub und ohne das russische Geld, mit dem die Separatisten unterstützt werden. Auf diese neue Realität hat sich die OSZE weitgehend eingestellt. Der klassische zwischenstaatliche Krieg, der auch unterscheidet zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten und Frontlinien und nicht von Kriegshandlungen beeinflusste Gebiete, der ist Geschichte.

Daher sicher auch manche Überlegung, dass man so eine OSZE im arabischen Raum brauchen könnte ...

Ja, aber da fehlen sämtliche Voraussetzungen. Man hat das ebenso für den asiatischen Bereich, für Nordasien debattiert. Aber da bin ich außerordentlich skeptisch. Zumindest auf kurze und mittlere Sicht, denn dazu müsste die Bereitschaft von allen Seiten existieren. Doch dort ist nur die Bereitschaft zum Kampf zu spüren.

Ich nehme an, Sie sind weniger skeptisch, was den bevorstehenden OSZE-Vorsitz Deutschlands angeht.

Das ist eine ganz große Herausforderung und überhaupt kein Selbstläufer. Sie hatten den Dialog angesprochen - wir haben im Moment keinen Dialog. Was wir feststellen müssen ist, dass es im Ständigen Rat der OSZE wechselseitige Beschimpfungen und Anklagen von morgens 10 bis abends 18 Uhr gibt - unterbrochen von der Mittagspause. Im zwischenstaatlichen Bereich ist das etwas anders, da reden die Deutschen mit den Russen und umgekehrt. Es gibt amerikanisch-russische Gesprächskontakte auf allen Ebenen. Aber insgesamt ist das ziemlich wenig. Ich kann noch nicht erkennen, dass so etwas, was ich immer einen nicht-propagandistischen Dialog nenne, die Oberhand gewinnt.

Es mangelt am pragmatischen Gesprächswillen?

Pragmatisch klärt man bestimmte Dinge. Man hat zum Beispiel - und das hat ja eine gewisse Zusammenarbeit zwischen USA und Russland erfordert - den Iran-Deal durchgezogen. Oder man musste sich einigen auf die Sonderbeobachtungsmission. Das ist ja eine Form der Zusammenarbeit. Da durfte keiner dagegen stimmen. Aber ein größerer Dialog etwa über die Fragen, die die Bundeskanzlerin mehrfach angesprochen hat, also wie man die EU mit der Eurasischen Wirtschaftsunion kompatibel macht usw. - so einen größeren Dialog gibt es nicht. Alle erwarten von Deutschland, dass wir so einen Dialog irgendwie auf die Beine stellen. Doch das ist nicht so einfach.

Zumal Deutschland Partei ist als treibende Kraft in der EU und der NATO.

Sicher sind wir auf der einen Seite Partei, auf der anderen Seite haben wir gute Kontakte zu Russland. Der Dialog wird aber nur laufen, wenn relevante Staaten ihn tatsächlich wollen. Und da sind noch einige Fragezeichen anzubringen.

Noch einmal zu den Erwartungen an Deutschland: Die sind - nicht bei uns, wohl aber im Ausland - völlig überzogen. Nach dem Motto: Deutschland wird das schon irgendwie richten. Da gibt es jedoch meines Erachtens keine Automatismen. Der Vorsitzende der OSZE ist nicht der König in dieser Organisation. Er ist eine Art Moderator, der mit den anderen 56 etwas auf die Beine stellen muss. Dazu braucht man Konsens. Also man muss 57 dazu bringen, nicht Nein zu sagen. Das ist ziemlich schwierig. Ich bin vielleicht nicht skeptisch, aber ...

... aber auch nicht blauäugig.

Nein, die politische Lage ist einfach schwierig. Wir sind nicht mehr in einem Umfeld kooperativer Sicherheitspolitik. Russland hat seine Politik grundsätzlich geändert, und wir werden uns mit einer aggressiveren russischen Außenpolitik über einen längeren Zeitraum auseinanderzusetzen haben. Und das ist nicht einfach.

Das Schlimmste im Auge, das Beste wünschen?

Ja. So in etwa.

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